"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
Vater zwar täglich, aber immer nur kurz. Wir aßen gemeinsam zu Abend und samstags und sonntags zu Mittag. Meine Mutter benutzte ihn manchmal, so wie man den schwarzen Mann benutzt, der einen holen kommt, wenn man nicht artig ist. Wenn ihre traditionellen oder neuen Erziehungsmethoden nicht griffen, dann kam dieses »Warte nur bis heute Abend, das werde ich deinem Vater erzählen!«. Mein Vater war ein beherrschter Mann, keiner, der zum Leichtsinn neigte, sich auch mal dem süßen Lotterleben hingab. Er war kein Papa zum Pferdestehlen, zum Fußballspielen im Garten, zum Ich-zeig-dir-wie-man-Feuer-macht-und-ein-Baumhaus-baut, zum Samstagmittag-auf-den-Sportplatz-Gehen. Er war ebensowenig ein Kumpeltyp, mit dem ein junger Mann über den ersten Kuss redet. Er war der Vater zum Respekthaben, er war der Vater, von dem man lernt, zu dem man aufblickt und der einem dieses ungeheuer gute Gefühl gibt: Er ist da, auch wenn er nicht da ist. Er hat alles im Griff, er hat den Überblick. So einen wollte man nicht vergrätzen. Und so fruchteten die Drohungen des An-ihn-verpetzt-Werdens meist mehr als der berühmte kleine Klapps, der ja noch niemandem geschadet hat und aus dem manchmal auch ein größerer Klapps geworden ist.
Ach, keine Frage: Mir ging es gut. Es mangelte mir an nichts. Zumindest nichts von dem, was mit »materiell« grob und unschön umschrieben ist. An diesen Dingen hing eben das Herz eines Jungen. Vom Bonanza-Rad bis zum Wigwam-Zelt. Was ich wollte, bekam ich, irgendwie. Manchmal nicht sofort, aber ich konnte unglaublich penetrant, hartnäckig und kreativ beim Überreden sein. Ich sägte an Nerven, hämmerte immer wieder auf meine Eltern ein. Bis sie die weiße Flagge in Form des Geldbeutelzückens hissten. Erbarmen! Widerstand war zwecklos. Ich fühlte mich wohl und mochte mein Leben so, wie es war. Etwas dicklich schon, aber unbeschwert ging ich durch diese Kindheitstage. Dass mir etwas fehlte und was, das sollte ich erst Jahrzehnte später zu spüren bekommen. Ein Kind denkt nicht nach über seine Wertigkeit, seinen Platz im Leben. Warum auch?
Ich erinnere mich genau an das letzte Treffen zwischen meinem Vater und mir. Er von seiner Krankheit schwer gezeichnet, ich von meiner. Eingefallene Höhlenaugen, wir beide. Aber beide mit Flackern im Blick – er noch, ich wieder. Meine Mutter erfüllte wieder einmal ihre Rolle des Lebens, die Frau für alle Fälle, die wahlweise »Eine-muss-es-ja-machen«- oder »Wenn-ich-es-nicht-mache-macht-es-niemand«-Frau. Sie organisierte, initiierte, produzierte, und mit Vorliebe für andere: Jahrgang, Vereine, Partei. Meine Mutter konnte immer irgendeinen Kuchen backen, Salat machen, ganze Menüs kochen, auch wenn sie eigentlich nicht konnte.
Meine Mutter also rief mich an und fragte, ob ich denn mittags zu Papa kommen könnte, weil sie ja mit zum Jahrgangsausflug gehen musste. Er kippte schon mal um, lag dann hilflos auf dem Boden. Es passierte nicht oft, aber es passierte schon mal. Das war ihr Horrorszenario. In den vergangenen Monaten ging sie gar nicht mehr aus dem Haus, nur noch zu ihrer morgendlichen B-Besorgung. Brötchen & BILD bei Bäcker Blüm. Natürlich kam ich, aber ein, zwei Stunden musste er noch alleine verbringen, da ich am späten Vormittag eine Immobilienbesichtigung hatte. Immer mal wieder schaute ich mir etwas an. Auch, um mein Leben zu planen, von dem ich gar nicht wusste, wie es weitergeht und ob überhaupt. Manchmal schaute ich mir diese Bauten an, und es war einfach unwirklich. Es hatte etwas Beliebiges. Ich konnte mir vorstellen, da zu leben, in bunten Farben. Und dennoch hakte ich die Besuche wie Pflichttermine ab. Es war auch oft sehr anstrengend, Treppen hoch und runter, reden, einen guten Eindruck machen, obgleich ich wusste, dass die jetzigen Hausbesitzer dachten: Wieso sollte ich einer laufenden Leiche mein Haus verkaufen? Ein Haus, ein alter Bauernhof, ein restauriertes Fachwerk, eine Hofreite. Etwas in der Art sollte es sein. Auch da nahm meine Denkweise eine für mich überraschende Wendung: Früher erhob ich es zum Dogma: Ich bin der Wohnungstyp. Großstadt, mittendrin. Tür zu und gut. Und nun: Haus, Land, Natur, Charme. Der Reiheneckhaus-mit-Garten-und-Kombi-vor-der-Tür-Typ wollte ich nie sein. Daran hat sich auch nichts geändert.
Armsheim war das Ziel an diesem 10. August 2010. Ein kleines Winzerdorf im Rheinhessischen Hügelland, dort, wo alle Dörfer den Nachnamen …heim zu tragen scheinen. Es war das, was man Volltreffer
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