"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
ich mich fast zu Tod hungere, nur um im Mittelpunkt zu stehen, Fürsorge zu genießen? Ist die Angst real, dass Menschen mich fallen lassen, mich wieder weniger mögen oder eben nicht mehr so in ihrem Fokus und Herzen haben, als zu der Zeit, in der sie sich um mich sorgen? Genieße ich es tatsächlich? Suhle ich mich geradezu in der Rolle des in die Arme zu nehmenden kleinen Kindes, das Liebe sucht, Wärme, Nähe?
Ich weiß, das ist absurd. Ich denke, ich muss diese Angst des »Fallengelassenwerdens« nicht haben. Wer mich mag, mag mich auch noch, wenn ich wieder in eine Männerjeans passe. Die Menschen, die mir wichtig sind, mögen mich echt, egal in welcher Körperform. Ich erinnere mich noch sehr gut an einen Nachmittag in Südafrika. Wieder einmal Südafrika. Ich hatte die Idee, Anfang Dezember des Jahres 2009 eine Art WM -Symposium abzuhalten, 60 Kilometer vor den Toren Kapstadts, im Hotel »Grande Roche«, Paarl. Ich organisierte es mit meinen Kontakten vor Ort, die Deutsche Telekom lud ein. Journalisten kamen und lauschten unter anderem den Worten von Nationalmannschafts-Manager Oliver Bierhoff und Co-Trainer Hansi Flick. Das Forum war ein Erfolg. Der Nachmittag eine Lektion. Die DFB -Kommunikatoren Harald Stenger und Uli Voigt redeten mir ebenso ins Gewissen wie Bierhoff und Flick. Sie machten mir klar, dass sie mich nicht fallenlassen würden. Ich solle mich zurückziehen, endlich einmal Energie und Mittel ins Gesundwerden stecken, nicht darein, die Krankheit zu erhalten. Ich war berührt. Zumindest so lange, bis der Nachmittag vorüber war. Danach widmete ich mich wieder voller Leidenschaft meiner Anna. Es waren dies die letzten Tage, ehe auch meine Organe die Schnauze von mir voll hatten. Auf der Fahrt zum Flughafen in Kapstadt sah ich Alice, die Frau meines Freundes Volki, weinen, sie weinte um mich. Ich spürte die Fürsorge seiner ganzen Familie, die mir Koffer trug, Mut zusprach und Umarmungen spendeten. Sie wollten nur das eine: dass ich zunehme.
Und ich wollte das ja auch. Zumindest theoretisch. Denn als Normalgewichtiger oder zumindest als normal Untergewichtiger könnte ich endlich wieder all das machen, worauf ich jetzt als Dauerpinkler und Gerippe verzichten muss. Als Nicht-Freak wäre ich wieder viel näher inmitten meiner Freunde. Und nicht als eher bemitleidenswerte Figur am Rand, die Fürsorge braucht und für Sorgen sorgt. Ich wäre endlich wieder aktiver Teil meines eigenen Freundeskreises – und das nicht nur bei Facebook.
Ich will diese Krankheit überstehen, ich will aus ihr wichtige Lehren ziehen. Ich weiß, ich muss lernen, dauerhaft Hilfe und Nähe zuzulassen und Menschen nicht abzublocken. Aber der Mut dazu ist nun einmal noch nicht in mir. Letztendlich stellt sich mir hier wie überall die gleiche Frage: Wie weit würde ich gehen? Was ist es mir wert, das arme Hascherl zu spielen? Selbst wenn ich mir durch meine Krankheit Zuneigung, Fürsorge, Herzenswärme erschliche – wären das alles Gründe, die es wert sind zu sterben?
Und mit Fragen wie diesen treibe ich mich wie der gnadenlos und ungeduldig gewordene Hirte meiner selbst zunehmend in eine Ecke, die ich lange aus Angst links liegen ließ.
Die Ecke, in der nur noch eine Frage bleibt:
Will ich leben oder sterben?
Ich habe mich für das Leben entschieden. Jetzt muss ich auch tun, was dafür nötig ist.
Neulich fiel mir ein, wie ich früher am Wochenende mit meiner Mutter gekocht hatte. Sie machte schon immer den besten Djuvec-Reis außerhalb des Balkangebiets, ich habe dazu die Cevapcici gerollt, und alles war gut und lecker. Ich dachte: Wirst du das je wieder essen? Meine Mutter ist nicht mehr die Jüngste, ich mache keine Anstalten, wieder normal und anständig zu essen – es könnte knapp werden.
Und als ob sie es geahnt hätte, dass ich an sie denke, klingelt in diesem Moment das Telefon. Es ist Mutter. Ob ich mal eben …
»Mama«, sage ich, »ich schaffe die Treppe kaum.«
»O.k., danke sehr.« – »Ja, aber …« – »Nee, schon gut …«
Aufgelegt.
Familienessen
Der Sohn gerettet – der Vater stirbt
Welche Ironie.
Einer, der in den vergangenen Monaten am meisten unter meinem Zustand litt, war mein Vater. Auch das noch. Er hatte schon genug mit seinem eigenen Kampf gegen den Zerfall zu tun. Dieser blitzgescheite, weltläufige Mann musste sich selbst dabei zusehen, wie das Leben ihn mehr und mehr verließ. Er trug es mit hoher Würde und Demut. Er klagte nie.
Begonnen hatte alles im Juli 1981. Wir
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