Die Messermacher (German Edition)
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Im abgelegenen Örtchen Ottenbach, im „Tal der Liebe“ am Fuße des Kaiserberges Hohenstaufen, schien die Welt an diesem sommerlichen Junitag noch in Ordnung. Doch war dieser Schein der „heilen Welt“ nicht allzu trügerisch?
„Oma! Opa! Nun macht doch endlich auf!“, jammerte Nora, denn die zierliche Achtzehnjährige hatte wie üblich ihren Werkstattschlüssel nicht dabei. Sie war zwar als quirlige Frühaufsteherin stets die erste, die im großelterlichen Messermacher-Betrieb an der Werkbank oder am Computer saß, doch ihre Großeltern waren immer schon wach und schlossen jeden Tag die Wohnungstüre auf, denn die Werkstatt befand sich in einem Anbau gleich neben dem Wohnzimmer. Normalerweise trudelten dann nacheinander Noras 56-jähriger Vater Jakob, dessen zehn Jahre jüngerer Bruder Tobias und schließlich, meist erst gegen zehn Uhr, die gemeinsame Schwester Marianne ein. Mit ihren vierzig Jahren war Marianne immer noch überzeugter Single und kostete das mit einem ausschweifenden Lebensstil auch weidlich aus. Als Nachtmensch schaffte sie es einfach nicht, wie die anderen Familienmitglieder um sieben Uhr in der Firma anzutanzen. Seit ein paar Monaten hatte die Familie nun für das jüngste Mitglied, Noras 16-jährigen Bruder Felix, auch einen Ausbildungsplatz eingerichtet, was in der doch recht kleinen Werkstatt zu einigen Umräum- und Erweiterungsaktionen geführt hatte. Delfina, Jakobs Frau und die Mutter von Nora und Felix, kümmerte sich stundenweise um das Büro und so war das Familienunternehmen komplett. Die gute Auftragslage ermöglichte es, allen Angehörigen der Familie Angerer ein Auskommen zu sichern. Die Großeltern Reno und Adele, beide 74, führten die Firma immer noch mit strenger Hand und waren bisher nicht dazu bereit, dies in die Hände ihrer Kinder zu legen. Was zumindest einem Familienmitglied immer weniger behagte.
An diesem Montagmorgen wunderte sich Nora sehr, dass die Wohnungstüre verschlossen blieb. Ob Opa mal wieder eine anstrengende Nacht hinter sich hatte? Seit seine Frau an Lungenkrebs erkrankt war (Nora hatte auf so was nur gewartet, denn ihre Oma rauchte schon immer sehr viel), musste Reno des Öfteren nachts aufstehen und seiner Frau auf die Toilette helfen. Adele war schon seit Wochen zu schwach, um dies alleine zu tun. Das Atmen fiel ihr zusehends schwerer und ihr Kreislauf spielte oft verrückt, da sie meist den ganzen Tag nur noch im Bett lag.
„Wahrscheinlich schnarcht Opa noch und Oma schläft ja morgens immer so fest, dass sie kaum wach zu kriegen ist. Jetzt muss ich halt warten, bis Papa kommt“, murmelte Nora und setzte sich in den Pavillon des großen Gartens. Wer wohl in diesem Jahr die Pflege des Gartens übernehmen würde, wo die Oma doch so krank war? Nora erinnerte sich noch gut an den letzten Frühling, als ihre Großmutter wieder viele herrliche Blumenbeete und große steinerne Blumentröge mit den schönsten Blumen arrangiert hatte. Seit die hohe Hecke entfernt werden musste, weil sie total morsch geworden war, konnten auch die vorbeigehenden Spaziergänger den tollen Garten der Angerers bewundern. Einerseits hatte sich Adele geschmeichelt gefühlt, wenn die Leute staunend stehen geblieben waren, aber andererseits hätte sie nun gerne wieder mehr Privatsphäre gehabt, so wie früher, als die hohe Hecke ihr Anwesen vor neugierigen Blicken bewahrt hatte. Es würde noch sehr lange dauern, bis die neu gesetzten Pflanzen wieder als Sichtschutz fungieren konnten.
Ausgerechnet heute verspätete sich Noras Vater und er kam gemeinsam mit seinem Bruder und Felix mit den Mofas angeknattert. Seit sie auf einen außerhalb des Ortes gelegenen Bauernhof gezogen waren, konnten sie aus Zeit- und Fitnessgründen nicht mehr mit den Fahrrädern zur Arbeit fahren. Die Nachbarn waren zwar über den frühmorgendlichen Lärm nicht erfreut, mussten das aber hinnehmen – es blieb ihnen nichts anderes übrig.
„Was ist denn mit dir los, Nora? Warum gehst du nicht rein? Hast du mal wieder Streit mit Oma?“, fragte ihr Vater mitfühlend, denn seine Mutter konnte manchmal sehr ungemütlich werden.
„Die Tür ist noch zu und Oma und Opa hören mich nicht. Du weißt doch, dass ich nie einen Schlüssel dabei hab – bisher brauchte ich ihn ja auch nicht“, rechtfertigte sich Nora und stapfte dann hinter ihrem Vater her. Eigentlich wäre sie bei diesem herrlichen Sommerwetter lieber draußen im Garten geblieben, aber leider kannte ihre
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