"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
mir wochenlang mit immer wiederkehrenden Vorwürfen gegenübertrat. Nichts machte ich richtig, nichts konnte ich ihr recht machen.
Da gibt es dieses Foto: Mutter vor Koala. Ihr Gesicht spricht Bildbände. Sie blickt in die Kamera, als hätte man sie im Busch ausgesetzt und ins Kakerlakenbad befohlen. Statt Freude, Offenheit, Genuss nur Verkniffenheit, Verbitterung, Unverständnis. Ein Foto wie eine Anklage: Man hat mich zur Höchststrafe verurteilt. Was hast du mir angetan? Hol mich hier raus!
In dieser Zeit überfiel mich zum ersten Mal – jedenfalls zum ersten Mal in dieser Vehemenz und Lautstärke – die Frage: Warum versuchte ich es denn aber auch immer wieder? Warum wollte ich es ihr überhaupt unbedingt recht machen?
Die Antwort war klar: jahrelanges Training.
Sie flüchtete sich immer wieder in diese illusorische, eigene Welt, redete Dinge aus der Vergangenheit schön und verklärte Papa zu einer wahren Ikone, die ich in diesen Facetten nicht wahrgenommen hatte oder vielleicht damals noch nicht hatte wahrnehmen können.
Ich sagte nicht: »Mutter, das war doch gar nicht so.«
Mir gegenüber war sie verbittert, barsch. Ich empfand es als unfair.
Ich sagte nicht: »Ach, sei doch mal ruhig!«
Meine Magersucht blendete sie aus, sie passte nicht in dieses Weltbild. So eine Krankheit bekommt Mann nicht.
Schließlich sorgte in ihren Augen dieses albern-kindische Essenverweigern, von dem man bislang nur gehört hatte, weil es ja immer nur anderen passierte, dafür, dass letztlich ich es war, der Hilfe brauchte, nicht sie.
Aber ich sagte nicht: »Mach deinen Mist doch allein!«
Australien, das war auch: Hungern wie selten zuvor bei ständigem Leistungsanspruch. Ich nahm dort wieder deutlich ab, denn ich ernährte mich neben den beiden tiefengebräunten Brötchenkrusten am Morgen nur von Süßstoff, Gemüse, Obst und Joghurt. In noch kleineren Mengen als zu Hause. Und neben dem Treiben in meiner Fitnessgarage zehrte natürlich auch das bei 40 Grad abgespulte Tagesprogramm an mir. Es gab nur eine, die Australien in vollen Zügen genoss und jede Sekunde auf ihre Kosten kam: Anna.
Ich funktionierte, so gut es ging. Und litt wie ein Schwein, weil mein Körper eben nicht mehr funktionierte. Der Wasserhaushalt lief mehr und mehr aus dem Ruder. Und so kam ich nicht umhin, selbst dann zum Pinkelbecher zu greifen, wenn Mutter und Steffi im Auto saßen. Mir war es peinlich, meiner Mutter war es peinlich, Steffi war’s egal. Sie schaute respektvoll aus dem Fenster und ließ mir meine Würde. Ich fühlte mich zum Kotzen. Aber was sollte dabei herauskommen? Ich sehnte mich so sehr nach Ruhe, nach innerer Ruhe, und wusste, dass nur ich sie mir verschaffen konnte.
Steffi sah mein Leid, unterstützte mich, wo sie konnte, hielt sich aber die meiste Zeit sehr im Hintergrund. Sie ist nicht der Mensch, der lautstark protestiert, wenn Unrecht geschieht oder dummes Zeug geredet wird. Sie nimmt Notiz und formuliert dann, wenn die Zeit reif ist. Sie ist das, was mit »weise« hinlänglich umschreiben ist … Sie war hinterher da, um die Verwundeten zu pflegen und den Ängstlichen die Hand zu halten. Aus ihrem Brief über die Zeit mit dem kranken Christian weiß ich, dass mein Leiden offensichtlich war. Wenn auch sicher nicht für jeden. Steffi schrieb:
Die Reise nach Australien, drei Wochen im Haus der Schulfreundin von Christians Mutter und vor allem mit seiner Mutter, hat mir sehr viel klar gemacht. Viel über die Wurzeln der Krankheit. Christian hat einen Weg gefunden, dort zu essen. Das ist nicht selbstverständlich, und ich habe ihn wirklich bewundert, denn es war natürlich nicht so einfach, die andauernde und sehr massive Gastfreundlichkeit, die hauptsächlich in Form von Essensangeboten stattfand, abzuwehren. Und dann unter den argwöhnischen Augen und besserwisserischen Kommentaren der Gastgeberin Dinge zuzubereiten, die nicht dem entsprachen, was sich diese so unter einer Mahlzeit vorstellte. Außerdem gab es in Australien nicht alle Lebensmittel, die auf Christians Zutatenliste erlaubt und akzeptiert sind. Es war schwierig, weil auch noch hinzukam, dass er sich wieder nicht schonte. Und so sah er am Ende dieser Reise sehr schlecht aus. Auch diese Reise hatte ihn viel Kraft gekostet, hatte an ihm gezehrt.
Das zeigt, dass auch Steffi in dieser Zeit in unserem Australien-Trip mehr als eine Reise sah. Sie hielt sich mit Kommentaren zurück, aber sie sah längst alles, was ich erst noch verstehen musste. Und sie musste
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