Danse Macabre
Ihre einzige Macht ist ihre telekinetische Fähigkeit, und sowohl Buch als auch Film kommen letztendlich zur selben Schlußfolgerung: Carrie benützt
ihr »wildesTalent« dazu, die gesamte, verrottete Gesellschaft
dem Erdboden gleichzumachen. Darin liegt meiner Meinung
nach der Grund, daß die Geschichte als Roman wie als Film
so erfolgreich war: Carries Rache ist etwas, das jeder Schüler,
der einmal im Turnunterricht die Hose heruntergezogen
bekam oder dessen Brille man im Klassenzimmer mit dem
Daumen gerieben hat, gutheißen kann. Wenn Carrie dieTurnhalle vernichtet (und die halbe Stadt beim Nachhausegehen,
was im Film wegen knappen Budgets weggelassen wurde),
sehen wir darin die Traumrevolution der sozial Niedergedrückten.
8
Vor einem großen Wald wohnte ein armer Holzhacker mit
seiner Frau und seinen zwei Kindern; das Bübchen hieß
Hansel und das Mädchen Gretel. Er hatte wenig zu beißen
und zu brechen, und einmal, als große Teuerung ins Land
kam, konnte er das tägliche Brot nicht mehr schaffen. Wie
er sich nun abends im Bette Gedanken machte und sich vor
Sorgen herumwälzte, seufzte er und sprach zu seiner Frau:
»Was soll aus uns werden? Wie können wir unsere armen
Kinder ernähren, da wir für uns selbst nichts mehr haben?«
»Weißt du was, Mann«, antwortete die Frau, »wir wollen
morgen in aller Frühe die Kinder hinaus in den Wald führen, wo er am dicksten ist. Da machen wir ihnen ein Feuer
an und geben jedem noch ein Stück Brot, dann gehen wir
an unsere Arbeit und lassen sie allein. Sie finden den Weg
nicht wieder nach Haus, und wir sind sie los …«*
Bisher haben wir Horror-Filme mit Subtexten analysiert, die
versuchten, reale (wenn auch manchmal freischwebende)
Ängste mit den alptraumhaften Ängsten des Horror-Films zu
* Dieses Zitat ist der Ausgabe Kinder-und Hausmärchen der Gebrüder
Grimm, Leipzig 1941, entnommen.
(Anm.d.Übers.)
verbinden. Aber nach dieser Beschwörung aus »Hansel und
Gretel«, dem belehrendsten aller Märchen, wolle n wir sogar
dieses schwache Licht der Vernunft noch dämpfen und einige
der Filme behandeln, deren Wirkung noch wesentlich tiefer
geht, am Vernünftigen vorbei und in jene Ängste, die universell zu sein scheinen.
Hiermit begeben wir uns ganz sicher in das Land der Tabus, und ich finde es am besten, wenn ich gleich jetzt ehrlich
zu Ihnen bin. Ich finde, daß wir alle geisteskrank sind; wir, die
nicht in Anstalten sind, verbergen es nur etwas besser - vielleicht aber so viel besser nun auch wieder nicht. Wir kennen
alle Menschen, die Selbstgespräche führen; Menschen, die
manchmal gräßliche Fratzen schneiden, wenn sie glauben,
daß ihnen keiner zusieht; Menschen, die eine hysterische
Angst haben - vor Schlangen, der Dunkelheit, engen Räumen, dem Sturz … und natürlich vor diesen letzten Würmern
und Maden, die so geduldig in der Erde warten, um ihre
Rolle am großen Erntedanktisch des Lebens zu spielen: Was
einst gegessen hat, wird am Ende gegessen.
Wenn wir unsere vier oder fünf Piepen bezahlen, um in der
Mitte der zehnten Reihe eines Kinos Platz zu nehmen, in dem
ein Horror-Film gezeigt wird, dann fordern wir den Alptraum
heraus.
Warum? Einige der Gründe sind einfach und offensichtlich. Um zu zeigen, daß wir es können, daß wir keine Angst
haben, daß wir mit dieser Achterbahn fahren können. Was
nicht heißen soll, daß ein wirklich guter Horror-Film uns
nicht einmal zum Schreien bringen kann, so wie wir in der
Achterbahn schreien, wenn sie in den Dreifachlooping oder
den Wassergraben am Boden rast. Horror-Filme waren, wie
Achterbahnen, stets der spezielle Bereich der Jugend; wenn
man vierzig oder fünfzig geworden ist, verspürt man wahrscheinlich keinen großen Appetit mehr nach dem Looping.
Wie ich gesagt habe, müssen wir auch unser Gefühl völligen Normalseins wiederherstellen; der Horror-Film ist unglaublich konservativ, sogar reaktionär. Freda Jackson als
gräßliche schmelzende Frau in Die, Monster, Die! (dt: Das
Grauen auf Schloß Whitley) bestätigt uns, daß wir immer
noch Lichtjahre von wahrer Häßlichkeit entfernt sind, wie
sehr wir uns auch von der Schönheit eines Robert Redford
oder einer Diana ROSS unterscheiden mögen.
Und wir brauchen unseren Spaß.
Ah, aber da fängt der Boden an wegzurutschen, nicht? Weil
das wirklich eine sehr merkwürdige Art von Spaß ist. Der
Spaß besteht darin, zu sehen, wie andere bedroht werden manchmal getötet. Ein Kritiker hat gesagt, wenn der Profifootball die Voyeursversion eines
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