Danse Macabre
fröhlich zum Abschied zu. »Gute Nacht, Leute«, rief er.
»Tut mir leid, daß das nicht das war, was Sie hören wollten.«
ihre Werkzeuge zusammengepackt und sind gegangen. Carol,
die Frau, die die Abtreibung gehabt hat, flippt aus und verlangt, daß der Protagonist geht und den Fötus findet. Im Versuch, sie zu beruhigen, geht er mit einem Stemmeisen auf die
Straße, hebt einen Kanaldeckel … und steigt in eine andere
Welt hinab.
Diese Alligator-Geschichte fing natürlich mit dem Wahn
der fünfziger Jahre an, den Kindern einen Babyalligator zu
schenken, weil sie doch so süße und niedliche kleine Geschöpfe sind. Das Kind, das den Alligator bekam, behielt ihn
ein paar Wochen, und plötzlich war der Alligator gar nicht
mehr so klein und niedlich. Er biß, möglicherweise floß Blut,
und dann wurde er die Toilette runtergespült. Es ist nicht so
weit hergeholt zu glauben, daß sie alle da unten in der schwarzen Unterwelt unserer Gesellschaft sein könnten, sich ernähren, wachsen und nur daraufwarten, den ersten unachtsamen
Kanalisationsarbeiter zu verschlingen, der in seinen Stulpenstiefeln dahergewatet kommt. Wie David Michael in seinem Death Tour darlegt, ist das Problem, daß die Abwasserkanäle
viel zu kalt sind, um einen ausgewachsenen Alligator am
Leben erhalten zu können, geschweige denn diejenigen, die
noch so klein sind, daß man sie hinunterspülen kann.
Doch eine so nüchterne Tatsache kann kaum ausreichen,
ein so wirkungsvolles Bild zu vernichten …, und soweit ich
weiß, wird gerade ein Film gedreht, der dieses Bild als Text
verwendet.
Ellison ist immer eine Art soziologischer Schriftstelle r gewesen, und wir können beinahe spüren, wie er die symbolischen Möglichkeiten dieser Vorstellung aufgreift, und als der
Protagonist tief genug in diese Fegefeuerunterwelt eingedrungen ist, findet er ein Geheimnis kryptischer, lovecraftscher Proportionen:
Am Eingang zum Reich der Kinder hat jemand vor langer
Zeit einen Wegweiser errichtet - nicht die Kinder selbst, sie
konnten es nicht gewesen sein. Es ist ein halbvermoderter
Klotz, auf dem, aus hartem Kirschholz geschnitzt, ein
Buch und eine Hand sich befinden. Das Buch ist aufgeschlagen, und die Hand ruht auf dem Buch; ein Finger
weist auf das einzige Wort, das in die leeren Seiten geritzt
ist. Das Wort heißt CROATOAN .*
Weiter hinten wird das Geheimnis offenbart. Wie die Alligatoren des Mythos, sind auch die Föten nicht gestorben. Die
Sünde wird man nicht so leicht los. Die Föten, die es gewöhnt
sind, im Fruchtwasser zu schwimmen, und die auf ihre Weise
ebenso primitiv und reptilienhaft sind wie die Alligatoren
selbst, haben das Hinabspülen überlebt und leben hier unten
im Dunkeln, sie existieren symbolisch im Dreck und in der
Scheiße, die von der Gesellschaft unserer Welt oben auf sie
hinabgegossen werden. Sie sind die Verkörperung der Maximen aus dem AltenTestament wie »Die Sünde stirbt niemals«
und »Sei gewiß, daß deine Sünden dich einholen werden«.
Hier unten, in diesem Reich unter der Stadt, leben die Kinder. Sie leben ungezwungen und auf wundersame Art. Ich
lerne Schritt für Schritt ihre unvorstellbare Existenz kennen. Wie sie essen, was sie essen, wie sie es fertigbringen zu
überleben, seit Jahrhunderten, das alles sind Dinge, die ich
nach und nach mit ungläubigem Staunen erfahre.
Ich bin der einzige Erwachsene hier.
Sie haben auf mich gewartet.
Sie nennen mich Vater.
Auf der einfachsten Ebene ist »Croatoan« eine Geschichte
von gerechter Rache. Der Protagonist ist ein Dreckskerl, der
sorglos eine ganze Reihe von Frauen geschwängert hat; die
Abtreibung bei Carol ist nicht die einzige, die seine Freundinnen Denise und Joanna für diesen verantwortungslosen Don
Jüan ausgeführt haben (auch wenn sie schwören, daß es die
letzte war). Die gerechte Rache ist, daß er feststellen muß,
die Verantwortung, der er sich entzogen hat, hat die ganze
Zeit auf ihn gewartet - so geduldig wie der verweste Leich
* Dieses und die nachfolgenden Zitate wurden der deutschen Ausgabe
»Croatoan«, in: Manfred Kluge (Hrsg.): Das Geschenk des Fakirs, München 1976, entnommen.
(Anm.d.Übers.)
nam, der manchmal in der archetypischen Haunt of Fear-Ge schichte (zum Beispiel dem Klassiker »Horror We? How’s
Bayou?« von Graham Ingles) von denToten wiederkehrt, um
seinen Mörder zu jagen.
Aber Ellisons Prosastil ist packend, er begreift das Mythenbild der verlorenen Alligatoren vollständig und umfassend,
und seine Beschwörung dieser
Weitere Kostenlose Bücher