Dark Desires - Im Bann der Unsterblichkeit
ersten Siedler hier eintrafen.
„In einem Dorf in der Nähe von London. Im Jahre 1633.“
1633. Jesses Gehirn feuerte automatisch geschichtliche Fakten ab. „Acht Jahre vor dem Ausbruch des Englischen Bürgerkriegs“, begann er aufzuzählen. „Zweiunddreißig Jahre, bevor die Pest in London gewütet hat. Hast du den großen Brand miterlebt?“, fragte er, vielleicht etwas zu euphorisch. Vier Fünftel von London waren damals zerstört worden. Ein flammendes Inferno.
Devons Augen weiteten sich vor Verblüffung. Es war ein großartiger Anblick, den Jesse lange in Erinnerung behalten wollte.
„Ich habe einige Jahre Geschichte studiert. Vielleicht sollte ich wieder damit anfangen. Jetzt, wo ich ein wandelndes Geschichtslexikon gefunden habe.“ Die Vorstellung, mit den Professoren über die Korrektheit geschichtlicher Details zu diskutieren, amüsierte ihn. Leider würde er niemals seine Quelle nennen können.
„Das ist eine gute Idee.“ Devon streckte sich etwas und strich mit den Fingerspitzen über Jesses Schläfe. Die Berührung jagte ein feines Kribbeln durch seinen Körper. „Warum hast du mit dem Studium aufgehört?“
Eine harmlose Frage, die ein eiskaltes Gefühl in Jesses Magengrube auslöste. Devon hielt in der Bewegung inne und musterte ihn irritiert.
„Bei meiner Mutter wurde Krebs diagnostiziert“, gab Jesse bemüht sachlich zurück. „Ein Gehirntumor. Die Ärzte gaben ihr bloß wenige Monate. Cassandra hatte immer schon davon geträumt, einmal Australien zu bereisen. Sie war nie dazu gekommen, weil sie mich allein großziehen musste.“ Jesse schluckte gegen den Kloß in seiner Kehle an. „Die Vorstellung, ihre letzten Tage in einem Krankenhausbett zu verbringen, war unerträglich für sie. Also haben wir den Flug nach Sydney gebucht, ein Wohnmobil gemietet und sind losgefahren.“
„Wie weit seid ihr gekommen?“
„Bis Darwin.“
Dort hatte seine Mutter beschlossen, den letzten Teil der Reise ohne ihn anzutreten. Solange sie noch in der Lage war, diese Entscheidung allein zu treffen.
Erinnerungen an ein leeres Rotweinglas blitzten vor Jesses innerem Auge auf und für einen Moment drohte die schützende Mauer einzustürzen, die er um seine Gefühle errichtet hatte.
„Ist alles in Ordnung?“, erkundigte Devon sich besorgt.
„Ja, alles klar.“ Jesse zwang sich zu einem Lächeln.
„Hattest du Geschwister?“, wechselte er abrupt das Thema.
„Sieben“, erwiderte Devon nach einer kurzen Pause. In seinem Blick lagen zahlreiche Fragen, die Jesse ihm irgendwann beantworten würde.
„Sieben“, wiederholte er, und versuchte sich Devon als kleinen Jungen vorzustellen. Wie er inmitten einer Geschwisterschar durch ein Dorf rannte und Hühner scheuchte.
Devon nickte und runzelte dann die Stirn. „Oder sechs. Sieben oder sechs.“ Sein Blick glitt ins Leere und plötzlich schien er wieder ganz weit weg zu sein. Wie im Café. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Es ist zu lange her. Ich erinnere mich nicht mehr an ihre Namen.“
Wie traurig! Jesse suchte vergeblich nach einer tröstenden Antwort.
„Ich habe vieles vergessen“, fuhr Devon ohne hörbares Bedauern fort. „Einige Ereignisse sind sehr präsent, aber es gibt ganze Jahrzehnte, an die ich keinerlei Erinnerung habe.“
„Passiert das allen Vampiren?“ War das eine Art Altersdemenz?
„Das menschliche Gehirn ist wohl nicht darauf ausgelegt, Jahrhunderte zu überdauern. Irgendwann wird die Flut der Eindrücke zu groß und es muss anfangen, Erinnerungen zu löschen.“
„Was geschieht, wenn es das nicht mehr schafft?“
„Dann verlieren wir den Verstand.“
Das war nicht die Antwort, die Jesse hören wollte.
„Mach dir keine Sorgen. Ich bin weit davon entfernt, verrückt zu werden.“
„Das hoffe ich.“
„Hast du Geschwister?“ Devons Frage lenkte seine Gedanken zurück zu einem angenehmeren Thema.
Jesse zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Mein Vater hat sich aus dem Staub gemacht, als ich klein war. Vielleicht habe ich irgendwo einen Haufen Halbgeschwister, von denen ich nichts weiß.“ Bevor Devon etwas erwidern konnte, platzte es aus Jesse heraus: „Wie bist du damals zurechtgekommen?“
Devons Gesichtsausdruck verriet Unverständnis.
„Ich meine, ich bin in einer Großstadt aufgewachsen“, erklärte Jesse. „Wenn man Edinburgh so nennen möchte. Festzustellen, dass ich schwul bin, hat mich vollkommen aus der Bahn geworfen. Aber meine Mutter hat mich unterstützt und es gab Selbsthilfegruppen,
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