Dark Desires: Im Bann der Unsterblichkeit
Allmählich bekam er Hunger und beschloss, außerhalb essen zu gehen. Entlang der Fitzroy Street gab es viele Cafés, Imbissbuden und Restaurants. Jesse aß häufig dort, weil er keine Lust hatte, für sich allein zu kochen. Deshalb war die Straße auch heute wieder sein Ziel. In seinem indischen Stammimbiss bestellte er mildes Gemüse-Curry mit Reis, befüllte einen Plastikbecher aus einem Wasserspender und setzte sich an einen Fensterplatz. Im Hintergrund dudelte leise ABBA, ein klares Zeichen dafür, dass heute Montag war. Ritesh, der Besitzer des Imbisses, spulte ein festes Musikprogramm ab. Zu jedem Wochentag gehörte eine bestimmte CD, die nie wechselte. Als würde man in einer Zeitschleife sitzen. Montags ABBA, dienstags Smokie und mittwochs der Soundtrack zu einem dieser Bollywood-Filme mit Shahrukh Khan. Peinlicherweise kannte Jesse den Streifen sogar.
Während er aß, beobachtete er das Treiben auf der Straße. In St. Kilda war immer was los. Obwohl der Stadtteil an einigen Ecken schmuddelig war, mochte er ihn. Zuhause hatte er in einer gepflegten, ruhigen Gegend gewohnt. Weit entfernt von Nutten und Nachtclubs.
Eine Straßenbahn rumpelte über die Schienen in der Mitte der breiten Straße und hielt fast direkt vor dem Imbiss. Die Linie 96 brachte einen zügig in die Innenstadt. Die 16 brauchte ewig, hielt aber an der Bourke Street Mall, der größten Shoppingmeile von Melbourne. Zum Glück kam Jesse mittlerweile selten zum Einkaufen, sonst wäre sein Kleiderschrank längst geplatzt.
In Edinburgh war er neben dem Studium ein Jahr lang in der Abteilung für Herrenbekleidung in einem Kaufhaus beschäftigt gewesen. Jeden Freitag und Samstag hatte er knackigen Jungs zum perfekten Outfit für die nächste Party verholfen, gestandene Geschäftsmänner bei der Auswahl des passenden Anzugs beraten und direkt an der Quelle für die neueste Mode gesessen. Der Job war super gewesen und das Leben großartig. Dann war seine Mutter krank geworden.
Jesse beobachtete die Menschen beim Verlassen der Straßenbahn. Zuletzt stieg ein junger Mann in Jeans und Lederjacke aus. Sportlicher Typ, groß, schlank, dunkelbraune Haare. Er erinnerte Jesse an jemanden.
Aber an wen?
„Jethro.“
Jesse wandte den Kopf. Ritesh kam mit einem Teller auf ihn zu. Sie waren per du, seitdem der Inder vergeblich versucht hatte, Jesse mit seiner Tochter zu verkuppeln.
„Hier, Samosas.“ Ritesh stellte zwei der frittierten Teigtaschen vor ihn hin. „Extra scharf, wie du magst.“
„Dankeschön.“ Jesse lächelte tapfer. Wenn er die Dinger auch noch aß, würde er platzen!
„Viel Arbeit, viel Essen.“ Ritesh klopfte ihm herzlich auf die Schulter und ging wieder hinter den Tresen.
Jesse nahm eine der warmen Teigtaschen in die Hand und biss vorsichtig hinein. Zuerst schmeckte er bloß die Füllung aus Kartoffeln und Gemüse, doch dann entflammten die Gewürze ein wahres Höllenfeuer in seinem Mund. Die Schärfe trieb ihm die Tränen in die Augen. Er konnte nicht einmal sagen, ob es gut oder schlecht schmeckte, es war einfach unglaublich scharf. Jesse hielt die Luft an und griff nach dem Plastikbecher. Das Wasser half nicht viel. Ein Glas Milch oder ein Joghurt-Lassi wäre besser gewesen.
„Jethro.“ Ritesh grinste zu ihm herüber. „Schmeckt gut?“
Jesse reckte stumm den Daumen in die Höhe.
Der Inder lachte. „Davon du kriegst Haare auf Brust.“
Ja, die brauchte er ganz bestimmt. Jesse grinste gequält und aß todesmutig weiter.
Ritesh war einer der wenigen Menschen, der Jesse bei seinem vollen Vornamen nannte. Für den Inder war es eine Geste der Höflichkeit. Die Australier kürzten alles ab. Jethro wurde zu Jesse und Jesse unweigerlich zu Jess. Allan, ein Kollege vom Lagerhaus, kam seit Monaten nicht mehr über ein knappes ‚J‘ hinaus. Einige Menschen reagierten mit amüsierten Blicken und Nachfragen auf seinen Vornamen, aber das störte ihn nicht. Im Gegenteil. So kam man ins Gespräch. Der Hinweis auf die Bibel, den er am Samstag gehört hatte, war ihm allerdings neu gewesen. Jesse griff nach der zweiten Teigtasche.
Noah, der betrunkene Holländer, dem auf Schiffen immer kotzübel wurde.
Plötzlich blitzte ein Bild vor seinen Augen auf. Er sah sich selbst unter einer Straßenlaterne stehen. In der Hand eine Plastikkarte mit dem Foto eines blonden, blauäugigen Jungen. Neben ihm stand ein Mann.
Jesse starrte auf die Samosa in seiner Hand.
Wie sieht er aus?
Er brauchte bloß den Kopf zu wenden.
Wie sieht er
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