Dark Kiss
mich beruhigen sollen. Ein Problem weniger. Aber aus irgendeinem Grund fühlte sich ihre gute Stimmung nicht echt an. Wir waren seit meinem fünften Lebensjahr beste Freundinnen, und ich konnte die echte Carly von der unechten unterscheiden. Mit dieser Carly hier stimmte etwas nicht. Na prima. Sie war wütend auf mich und versuchte es zu verbergen. Mein Pech! Vielleicht hätte ich heute zu Hause bleiben sollen. Und morgen. Und das ganze letzte Schuljahr.
Aber ich folgte dem Rat von Bishop und schlurfte den Flur entlang zum Englischunterricht. Es dauerte nicht lange, bis mich jemand einholte, und ich wusste, ohne hinzusehen, wer es war. Ein weiteres Problem, von dem ich keine Ahnung hatte, wie ich damit umgehen sollte.
„Du hast mir gestern nicht geantwortet“, sagte Colin.
Oh ja, gestern. Als ich ihn fast verschlungen hatte, weil mich mein Hunger dazu trieb. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte ich ihm einen falschen Eindruck vermittelt. Das konnte ich ihm nicht vorwerfen. Ich hätte genau denselben Eindruck bekommen, wenn ein Typ die Hände und Lippen nicht von mir lassen könnte.
Wir gingen mit einem Haufen anderer Leute durch den Gang, die sich in alle Richtungen verstreuten, als schließlich die Glocke läutete. Das Geräusch von zuschlagenden Schranktüren klang durch den Schulflur. „Wir sollten vielleicht reden“, sagte ich zu ihm und bemühte mich, mindestens einen halbenMeter Abstand zwischen uns zu halten.
„Ich bin ganz deiner Meinung.“
Am besten sollte ich es schnell hinter mich bringen. Das Pflaster mit einem Ruck abreißen, damit es nicht allzu wehtat. „Aus uns beiden wird nichts werden“, meinte ich.
Sein Lächeln verschwand, und er wurde nur einige Schritte von unserem Klassenzimmer entfernt langsamer. Der Korridor war jetzt bis auf einige Nachzügler wie uns weitgehend leer.
Verdammt. Vielleicht hätte ich jetzt doch nicht davon anfangen sollen, denn jetzt konnte ich nicht vor ihm weglaufen. So kaltherzig war ich nicht.
„Du gibst uns noch nicht einmal eine Chance“, sagte er. „Ich habe es gestern gespürt, da ist etwas zwischen uns.“
Ich konnte ihm schlecht erklären, dass das daran lag, dass er mir zu nahe gekommen war und er damit meinen Hunger auf seine Seele erweckt hatte. Das würde er mir wohl kaum glauben. Ich achtete jetzt sehr genau darauf, ausreichend Abstand und Distanz zu den anderen zu wahren. Im Gang zwischen meinen Mitschülern hatte ich ständig Hunger, doch ich fiel über niemanden her, da die meisten Leute mir nicht zu sehr auf die Pelle rückten. Aber Colin wollte aus irgendeinem verrückten Grund viel mehr als eine Freundschaft und versuchte, mir näherzukommen. Genau das war das Problem. Zu nah, und mein Hunger drehte völlig durch.
Und gerade kam er mir zu nah. Es war nicht so, dass Colin nicht auch aus anderen Gründen anziehend auf mich wirkte. Er war sehr süß. Seit dem Sommer, in dem er Carly datete, war er sogar noch attraktiver geworden, auch wenn er mal einen Haarschnitt gebrauchen konnte. Plötzlich strich ich sein blondes Haar aus seiner Stirn, als hätte ich keinerlei Kontrolle darüber, was meine Hand tat. Ich schaute ihn gierig an.
Böse. Das war böse. Er war mir zu nahe gekommen. Jetzt war er nur noch einen Schritt entfernt, und ich fühlte michwie benebelt. Und sein Geruch – nach Zimt und Apfelkuchen, warm und würzig – war nicht mehr zu ignorieren. Bishop roch sogar noch besser, aber der war nicht hier, und er hatte keine Seele zu verlieren. Colin schon.
Seine braunen Augen wurden noch dunkler, und er schlang einen Arm um meine Taille und drückte mich gegen eine Schrankreihe. „Sag mir nicht, dass du das nicht auch fühlst, Sam.“
„Das tue ich nicht.“ Ich klang außer Atem. So ein Hunger.
„Mir ist klar, dass du Carly nicht verletzen möchtest. Das verstehe ich. Aber gib mir doch einfach eine Chance.“
Ich schüttelte den Kopf. Zu nahe, viel zu nahe. „Ich kann das nicht tun.“
Er ließ sich nicht im Geringsten irritieren. „Ich will dich jetzt unbedingt küssen.“
„Ich auch.“
Warum hatte Bishop vorgeschlagen, ich solle zur Schule gehen, wo er doch wusste, was ich war und womit ich zu kämpfen hatte? Ich kam mir gerade kein bisschen normal vor. Alles, was ich spürte, war Heißhunger.
„Ich hatte recht.“ Er grinste. „Wir finden eine Lösung. Niemand wird verletzt, ich verspreche es.“ Und dann gab er mich plötzlich frei und schlüpfte ins Klassenzimmer. Der Nebel verschwand sofort aus
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