Der Zorn Gottes
Prolog
Der Mann, der in der Ecke des
verlassenen Friedhofs zwischen der Poor Jewry und der Sybethe Lane
wartete, zuckte zusammen, als eine Eule in der alten Eibe über ihm
mit klagendem Ruf ihre Geisterschwingen ausbreitete und wie ein dunkler
Engel über wucherndes Gras und Dornengestrüpp davonschwebte. Der
Beobachter sah, wie der Vogel sich auf sein kreischendes Opfer stürzte
und dann wieder mühelos wie eine Rauchwolke zum sternenklaren Himmel
aufstieg. Den Mann schauderte, und er fluchte. Geschichten aus seiner
Kindheit fielen ihm ein, Geschichten von Gestaltwandlern, jenen Hexen und
alten Weibern der Finsternis, die ihr Aussehen verändern konnten und
dann solche verlassenen, einsamen Orte heimsuchten. Die Nacht war warm,
aber dem Mann war kalt. Die Zeiten waren unruhig. Tagsüber lachte er
über die Klatschgeschichten von einem Anker an einem Seil, der aus
einer Wolke herabhing und in einem Erdhügel bei Tilbury steckte. Oder
vom König der Pygmäen mit seinem großen Kopf und feurigen
Antlitz, den man gesehen hatte, wie er auf einer Ziege durch die Wälder
im Norden der Stadt geritten war. Lachende Teufelchen, so klein wie Spitzmäuse,
sprangen wie Fische im Netz im Gras um den Galgen zu Tyburn herum. Solche
Geschichten waren nur ein Spiegel der Zeiten, Widerhall des
Prophetenwortes: »Wehe dem Königreich, dessen König ein
Kind ist!«
Eine Prophezeiung, die jetzt
in England wahr wurde: Der goldhaarige Richard war nur ein Knabe, und die
Staatsgeschäfte lagen in den Händen seines raffgierigen Onkels,
des Regenten John von Gaunt, des Herzogs von Lancaster, der unfähig
schien, Balsam in die Wunden des Reiches zu gießen. Französische
Cialeeren überfielen und plünderten die Städte an der
Kanalküste. Im Norden drängten die Schotten über die Grenze
und feierten Orgien des Brandschatzens und Plünderns, und in den
Grafschaften rings um London protestierten die Bauern, unter der
Steuerlast ächzend und an die Scholle gefesselt, erbittert gegen die
Herren des Landes und planten blutige Aufstände.
Gaunt aber war glitschig wie
ein Fisch: Außerstande, dem rebellischen Volk noch weitere Steuern
abzupressen, hatte er jetzt das Wunder vollbracht, die in
Auseinandersetzungen verstrickten Gilden von London zu einen, um Geld von
den reichen Bürgern und Kaufleuten zu bekommen. Dem mußte ein
Ende gemacht werden. Der Beobachter im Dunkel wünschte nur, es gäbe
einen leichteren Weg, das zu bewerkstelligen. Er nagte an seiner
Unterlippe. Gaunt mußte vernichtet werden, das war das Wichtigste.
Mit der Revolte würde im Königreich eine neue Ordnung errichtet
werden, und die »Große Gemeinschaft«, wie die Bauernführer
sich selbst nannten, würde entscheiden, wer leben und wer sterben
sollte, wer Macht bekommen und wer Handel treiben würde. Die
Umsichtigen in der Stadtregierung machten bereits Anstalten, mit diesen Männern
Freundschaft zu schließen.
»Ich bin hier.«
Der Mann schrak zusammen. Hörte
er Gespenster?
»Ich bin hier«,
wiederholte die Stimme, leise und kehlig.
»Wo bist du?«
»Wir haben dich
umzingelt. Beweg dich nicht. Lauf nicht weg. Höre, was ich dir zu
sagen habe.«
»Wie heißt du?«
fragte der Mann und versuchte, seinen rasenden Herzschlag zu bremsen und
die Panik, die ihm die Gedärme zusammenknotete.
»Ich bin Ira Dei«,
antwortete die Stimme aus der Dunkelheit des Friedhofs. »Ich bin der
Zorn Gottes. Und Gottes Zorn wird sich ergießen über jene, die
ernten, wo sie nicht gesät haben, die Gewinne sammeln, wo sie kein
Recht dazu haben, und die die Armen der Erde unterdrücken, als wären
sie Würmer und sonst nichts.«
»Was wollt ihr?«
»Alles neu machen.
Dieses Königreich in ein Zeitalter der Unschuld führen, denn als Adam grub und Eva spann, wo war da der Edelmann?«
*
Der Mann nickte. Er hatte
diesen Knittelvers schon von den Bauern gehört, die ihn wie eine
Hymne beständig sangen; sie wollten auf London marschieren, die Stadt
in Glut und Asche legen, den Onkel des Königs ergreifen, ihm den Kopf
abschlagen und auf eine Stange stecken und dann eine Prozession
veranstalten.
»Bist du für uns?«
fragte die Stimme.
»Natürlich!«
stammelte der Mann.
»Und machen die Pläne
des Regenten Fortschritte?«
»Das Bankett ist morgen
abend.«
»Dann mußt du
handeln. Tu, was wir wollen, und wir betrachten dich als Freund.«
»Ich habe
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