DARKNET
vergeblich einzuschlafen versuchte.
Merritts Witwe drückte ihre Töchter eng an sich. Die Ältere vergrub das Gesicht im Mantel ihrer Mutter, die Jüngere hingegen, die erst vier war, sah sich um, musterte die anderen Erwachsenen und versuchte herauszubekommen, was da geschah. Als sich ihre Blicke trafen, fühlte Philips, wie ihr hinter ihrer getönten medizinischen Wrap-around-Brille Tränen in die Augen stiegen.
Sie war an allem schuld.
Sie konnte dem Blick der Kleinen nicht standhalten. Also wandte sie sich ab und ging zwischen den Grabsteinen und den Trauernden hindurch weiter nach hinten. Philips liefen die Tränen über die Wangen, während sie sich zwischen den Lebenden und den Toten bewegte und sich fragte, ob ihr Gehirn überhaupt vergessen konnte.
Eine Ehrenwache feuerte drei Salven ab, was Philips erschreckte und Erinnerungen an das verzweifelte Abwehrfeuer in Gebäude 29 weckte. Sie fühlte Panik in sich aufsteigen und ging weiter durch die Menge. Leute machten ihr Platz. Beamte der Staatspolizei von Kansas in Ausgehuniform, Männer und Frauen in Militäruniform, Leute hier aus der Stadt, Kinder – Menschen, in deren Leben Merritt eine Rolle gespielt hatte. Manche waren Tausende von Meilen angereist. Beim Trauergottesdienst am Vorabend waren hundert Leute ans Pult gegangen, um herzerwärmende Geschichten von Roys Mut, Mitgefühl und Humor zu erzählen.
Einige dieser Leute erkannte sie im Vorbeigehen wieder. Ein geläuterter Verbrecher. Ein Paschtu-Dolmetscher aus Belutschistan, der jetzt kurz davor war, amerikanischer Staatsbürger zu werden. Merritts Ausbilder in seiner Anfangszeit bei der Staatspolizei. Ein Banker aus Mexico City, dessen Tochter Merritt bei einem tollkühnen Kommandounternehmen aus den Händen von Entführern gerettet hatte – und so weiter und so fort.
Als Agent beim Elite-Geiselrettungsteam des FBI war Merritt kreuz und quer durch die Welt gereist, von einer Gefahrensituation zur nächsten. Aber überallhin hatte er die Werte mitgenommen, die er in dieser Kleinstadt erworben hatte. Endgültig nach Hause zurückgebracht hatte ihn erst der Tod.
Philips ging weiter zwischen den Trauergästen umher. Ein junger Priester. Repräsentanten der Stadt. Eine gutgekleidete Frau mit Sportbrille.
Philips blieb jäh stehen.
Sportbrille
. Ihrem Gehirn entging kein Detail. Sie erinnerte sich an die Momente unmittelbar vor dem Angriff. Merritt war in ihr Labor gekommen, um ihr erbeutetes Daemon-Equipment aus São Paulo, Brasilien, zu bringen. Es war eine Sportbrille gewesen – eine Brille, die in Wirklichkeit ein raffiniertes Head-up-Display ( HUD ) gewesen war, mit dem man in eine virtuelle Dimension blicken konnte. In eine erweiterte Realität, die der Daemon über das GPS -Gitter gelegt hatte. Sportbrillen waren die Benutzerschnittstelle zum Daemon.
Sie drehte sich nach der Frau um, die langsam und konzentriert durch die Menge ging, als suchte sie etwas. Philips machte kehrt, um ihr zu folgen, kam aber gleich darauf an einem weiteren Trauergast vorbei, einem Mann mittleren Alters im schwarzen Anzug, der eine ähnliche Brille trug. Die dicken Bügel und das ungewöhnliche Design dieses Modells hätte man leicht als spleenige neue Mode abtun können, aber das hier war mit Sicherheit kein Zufall. Der Mann sah sie flüchtig an und ging dann weiter, ebenfalls so, als suchte er etwas. Heiße Furcht überschwemmte Philips.
Daemon-Agenten.
Konnten sie wirklich so unverschämt sein, auf Merritts Beerdigung zu erscheinen? Philips zog ihr abhörsicheres L3 SME Smartphone heraus und ging energisch weiter, um ein Stück von den Daemon-Agenten wegzukommen. Ehe sie drei Meter zurückgelegt hatte, sah sie wieder einen Mann mit HUD -Brille. Philips trat hinter einen hohen Grabstein und sah sich nach einem Ort um, wo sie unbemerkt telefonisch Hilfe rufen konnte. Am Rand der Menge entdeckte sie eine verwitterte Familiengruft. Die steuerte sie an.
Auf dem Weg dorthin entdeckte sie immer noch mehr Daemon-Agenten, die sich durch die Trauergäste bewegten und offensichtlich die Menge nach etwas absuchten. Es waren ebenso viele Frauen wie Männer, junge Leute und gestandene Erwachsene bis in die Fünfziger. Ein Standardprofil schien es also nicht zu geben. Philips zählte mehrere Dutzend.
Als Philips hinter die Granitgruft trat, zog sie ihr Handy aus der Tasche, aber dann wurde ihr klar, dass sie gar nicht wusste, wen sie anrufen sollte. Roy Merritt wäre ihre erste Wahl gewesen. Doch praktisch jeder,
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