DARKNET
nicht erst in eine solche fundamentale Krise zu geraten.»
Sebeck musterte die massiven Felswände um sich herum. Dann sah er Riley fragend an.
«Richtig. Die Zwei-Flüsse-Halle wird ein solcher Wissensspeicher sein, wenn sie fertig ist. Das kann allerdings noch einige Jahrzehnte dauern.»
«Aber sorgt man nicht eher für die Verbreitung von Aberglauben mit so einem Hokuspokus?»
«Die Idee dahinter ist eine ganz pragmatische. Sehen Sie, viele Eltern erzählen ihren kleinen Kindern, es gebe einen Weihnachtsmann. Das ist leichter, als einem Dreijährigen die kulturelle Bedeutung eines Mittwinterfests zu erklären. Wenn Hokuspokus und kleine Lügen über das Gott-Monster im Berg die Leute dazu bringen, sich nicht mehr gegenseitig umzubringen und stattdessen zu lernen, dann kann die Wahrheit warten. Zu gegebener Zeit kann man das dann durch die Ehrfurcht vor wissenschaftlicher Praxis ersetzen.»
«Und
deshalb
hat Sobol den Daemon erschaffen?»
Sie schüttelte den Kopf. «Nein, deshalb sprechen wir von einem
schamanischen
Interface. Weil es etwas von Zauberei hat – und Lowtech-Gesellschaften es getrost dafür halten mögen. Aber im Gegensatz zur Zauberei ist es etwas ganz Reales, das auch reale Macht verleiht.»
Riley hob wieder die Hände. «Und jetzt werde ich Ihnen beibringen, wie man es benutzt.»
Zwei Tage später lehnte Sebeck am Geländer einer Terrasse oben auf Two Rivers Hall – dreihundert Meter über dem Wüstenboden. Der Blick von dem riesigen Felsmonolithen war imposant: Eine zerklüftete Linie von Mesas erstreckte sich bis zum Horizont.
Von hier oben war leichter zu erkennen, was für ein Plan hinter den Baustellen auf dem Valley-Grund stand. Außerdem war Sebeck jetzt auch in der Lage, die einzelnen Objekte im D-Raum zu befragen. Er konnte Callouts von Gruppenmitgliedern aufrufen, diese heranzoomen oder auch die D-Raum-Layer in seinem Sichtfeld umgruppieren. Und Nachrichten senden. Aber das alles interessierte ihn im Moment nicht.
Er stützte das Kinn mit den Armen auf dem Aluminiumgeländer ab und schaute auf die Themis-Skala, die sich mittig unten auf seinem HUD -Display befand. Sie faszinierte ihn. Sie war ein Maß für die Machtverteilung innerhalb einer Daemon-User-Community. Er konnte sie auf das gesamte Darknet einstellen oder auch nur auf das Holon, in dem er sich befand. Es war eine Skala mit einer dünnen Anzeigenadel – die in diesem Fall leicht nach rechts zeigte. Sebeck hatte sein Display so personalisiert, dass er sie immer sehen konnte. Wenn er genau genug hinschaute, konnte er die Nadel schwanken sehen.
Riley hatte ihm erklärt, wenn die Nadel ganz rechts stünde, bedeute das, dass die Daemon-Macht in sehr wenigen Händen konzentriert war, stünde sie dagegen ganz links, sei die Daemon-Macht praktisch unter allen Mitgliedern gleich verteilt.
Erstaunlicherweise hatte sie gesagt, das Ziel sei, beide Extreme zu verhindern. Zu viel Macht in zu wenigen Händen schade dem Allgemeinwohl, zu wenig Macht in den Händen Einzelner erschwere es, notwendige Entscheidungen zu treffen. Daher strebten Darknet-Communities es an, die Nadel in der Mitte zu halten – genau auf Nord, wie sie es nannten.
Offenbar wich die Two-Rivers-Fraktion um etwa fünfzehn Grad von Nord ab. Sebeck fragte sich, ob Riley die Machtgewichte verschob. Er hatte ja mitbekommen, wie geachtet ihre Meinung in diesem Holon war. Sie selbst schien sich davon nicht besonders beeindrucken zu lassen.
Einzelne können immer versagen, Sergeant. Auch ich.
Riley war eine interessante Frau. Sebeck konnte sich nicht erinnern, je einem so geduldigen und gleichzeitig unnachgiebigen Menschen begegnet zu sein. Außerdem wusste sie ungeheuer viel über die Welt um sich herum. Allmählich wurde ihm klar, dass er nicht der Angelpunkt von Sobols neuer Weltordnung war. Was er seltsamerweise als eine gewisse Erleichterung empfand.
Sebeck dachte über die
Virulenz
des Daemon nach. Riley hatte ihm erklärt, dass der Daemon an Virulenz verlor, je weiter er sich ausbreitete. Und dass er sich umgekehrt radikalisierte, wenn er schrumpfte. Er war darauf angelegt, sich wie ein natürlicher Organismus notfalls mit tödlicher Gewalt gegen seine Auslöschung zu wehren. Das erklärte zwar die blutigen Anfänge des Daemon, aber Sebeck konnte es trotzdem nicht akzeptieren. Der Daemon war im Grunde ein Parasit der menschlichen Gesellschaft, der eine Symbiose herbeizuführen versuchte. Eine Balance zwischen dem, was er nahm, und dem, was er gab.
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