Darkover 25 - Der Sohn des Verraeters
Erkenntnis löste eine seltsame Zufriedenheit aus – er hatte sehr viel Glück gehabt, dass er ein so hohes Alter erreicht hatte. Es war ihm gelungen, viele seiner Feinde zu überleben, und er hatte sich im Laufe der Zeit ein wenig echte Weisheit erworben. Der beißende Schmerz bestand darin, dass er zugleich auch viele teure Freunde verloren hatte.
Lew aß noch einen Löffel Suppe. Sie war mittlerweile nur noch lauwarm und unappetitlich, daher schob er die Schale weg. Er dachte wieder an Granfell und Belfontaine und rekapitulierte, was er von seinen Besuchen im Hauptquartier über die beiden Männer wusste. Ihre Oberflächengedanken ähnelten sich, sie waren voller Ehrgeiz und zeugten von Machthunger. Lew hatte die Denkweise der beiden nie wirklich verstanden, egal wie vielen Leuten er begegnete, die genauso dachten. Er fragte sich, ob Lyle Belfontaine auch nur die leiseste Ahnung davon hatte, wie sehr sein Untergebener darauf brannte, ihn zu überflügeln. Ließ sich das vielleicht zum Vorteil Darkovers ausnutzen?
Von der anderen Tischseite her fixierte ihn Javanne Hastur mit einem Reptilienblick, ihre ohnehin vorstehenden Augen traten vor Argwohn noch weiter aus den Höhlen. Katherine rutschte nervös auf ihrem Sessel umher, sie glaubte, der Blick sei auf sie gerichtet; Lew hörte das Holz unter ihrem schlanken Körper knarren. Er erwiderte Javannes Blick mit einem höflichen Lächeln, weil er wusste, dass sie sich darüber gewaltig ärgerte. Es war ein Jammer, dass sie so viele alte Rechnungen zu begleichen hatten. Javanne war eigentlich eine intelligente Frau, deren Kleinlichkeit und Verbohrtheit nur ihrer Frustration und einem Gefühl der Ohnmacht entsprangen.
Lew wandte den Kopf zu Katherine und dachte, wie überaus hübsch sie in dem weißen Wollkleid mit der schwarzen Stickerei aussah, das er seiner Tochter vor Jahren geschenkt hatte. Die Farben standen ihr perfekt, und das Kleid folgte der Wölbung ihrer Brüste auf eine geziemende und dezente Weise, die gerade deshalb umso reizvoller wirkte. Er mochte Katherine und fand, dass Herm Glück gehabt hatte, eine solche Frau zu finden. Dann sah ihn Mikhail vom Tischende her stirnrunzelnd an, und plötzlich traf ihn die ganze Wucht seines leichtfertigen Versprechens an Domenic. Er hätte dem Jungen befehlen sollen, nach Hause zu kommen! Wie sollte er Mik das erklären, von Marguerida ganz zu schweigen?
»Verzeihung, Domna Katherine. Mir ist entfallen, wovon wir gerade sprachen – ich musste an etwas anderes denken, und jetzt habe ich völlig den Faden verloren.« »Was hast du nun schon wieder vor?”, fragte Javanne misstrauisch.
Lew antwortete nicht sogleich, sondern betrachtete erst die Frau, die er seit mehr als sechzig Jahren kannte. Die Zeit hatte es gut mit ihr gemeint, und auch wenn ihr Haar inzwischen fast so weiß war wie das von Regis zuletzt, war ihre Haut immer noch glatt und weich, und sie wirkte jünger, als sie war.
Lew überlegte, ob ihre kämpferische Veranlagung sie so jugendlich erhielt – jedenfalls war sie mit den Jahren nicht umgänglicher geworden, und er konnte seinem ältesten Enkel beinahe verzeihen, dass er weggerannt war, um ihr aus dem Weg zu gehen. Sie war schon immer ein eigensinniger und schwieriger Mensch gewesen, ein Tyrann – selbst als kleines Mädchen, aber Lew hatte sie nie für niederträchtig oder böse gehalten. Wie er selbst war sie nur ziemlich dickköpfig, wenn es um ihre eigenen geschätzten Ansichten ging.
»Mutter, hör doch auf, Lew zu quälen, als ob er nur auf der Welt wäre, dich zu ärgern.« Einen Moment lang schien es, als wollte Javanne einen Wutanfall bekommen und auf ihren jüngsten und am wenigsten geliebten Sohn losgehen. Doch sie beherrschte sich, als ließe die Anwesenheit von Katherine Aldaran sie innehalten.
Lew konnte nicht umhin, das Geschick seiner Tochter hinsichtlich der Sitzordnung zu bewundern. Sie hatte Gabriel Lanart-Alton zu ihrer Rechten ans andere Tischende gesetzt, Javanne hingegen rechts von Mikhail, und so das Paar durch die ganze Länge der Tafel voneinander getrennt. Dann hatte sie Lew gegenüber von Javanne platziert, um deren Zorn von Mikhail wegzulenken, und ihm Katherine als Tischdame zugewiesen, um wenigstens einen Anschein von Höflichkeit zu gewährleisten. Marguerida war unter der Anleitung von Dio in deren letzten Lebensjahren von einer eher unbeholfenen jungen Wissenschaftlerin zu einer tüchtigen, sogar meisterhaften diplomatischen Gastgeberin geworden, die selbst unter
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