Darkyn 07 – Am Ende der Dunkelheit

Sie konnte sein dickes, krauses Haar mit ihren verletzten Fingern kaum spüren, aber sie streichelte ihm trotzdem den Kopf.
    Der helle Mond beobachtete sie, während die Grillen ihren Gesang einstellten und die gesamte Nacht den Atem anhielt.
    Er hob den Kopf, öffnete den Mund, um etwas zu sagen und küsste dann ihren Mund. Schließ deine Augen , flüsterte er.
    Luisa tat es. Seine Hände waren so warm, so sanft, und das Licht, das sie in ihren Träumen gesehen hatte, schimmerte in ihr, breitete sich aus und umschloss sie wie Sternenstaub und Mondstrahlen. Sie hatte Schmerzen erwartet, aber sie fühlte nur Leben, das sie durchfloss, bis sie dachte, sie müsste platzen.
    Sie fühlte, wie Blütenblätter ihre Haut streiften, als die Mondwinde um sie herum wuchs, aufblühte, neue Knospen und Blätter bildete und sich um ihren Rollstuhl rankte. Luisa fühlte ein Lachen in sich aufsteigen, und zum ersten Mal, seit die Männer sie verletzt hatten, ließ sie es frei, zusammen mit jedem finsteren Gedanken, jedem Kummer und jeder Sorge.
    Der Schattenprinz küsste sie wieder. Sei glücklich, Luisa.
    Luisa öffnete die Augen und erwachte aus ihrem Traum. Sie saß immer noch in ihrem Rollstuhl, allein unter dem Mond. Sie griff nach den Rädern, und da fiel ihr Blick auf ihre Hand. Die Narben waren verschwunden, ihre verbogenen Finger waren wieder gerade.
    Es war nur ein Traum.
    Sie löste den Verband von ihrer anderen Hand, wickelte ihn vorsichtig auf. Die Nähte ihrer letzten Operation fielen in ihren Schoß, weil sie nicht länger ihre verheilte, makellose Haut zusammenhielten. Sie fühlte ihre Berührung auf ihrem Handrücken, an dem doch alle Nervenzellen verbrannt waren.
    Luisa packte die Armlehnen des Rollstuhls und stand langsam auf. Ihre Beine hielten ihr Gewicht mühelos. Der ständige, nagende Schmerz in ihren Armen und ihrem Rücken pulsierte nicht länger durch ihren Körper. Das Knie, das sie nicht mehr hatte beugen können, tat es nun, geschmeidig und ohne jedes Stechen, als sie ihren ersten Schritt aus dem Rollstuhl machte.
    Vorsichtig ging Luisa zu dem stillen Teich. Dort, in dem Spiegel aus Wasser und Mondlicht, sah sie ihr Gesicht, glatt und dunkel, und ihre Augen, in denen Tränen schwammen.
    »All ihre harte Arbeit, einfach so verschwunden.« Sie stellte sich vor, wie es wäre, zurück in ihr Zimmer zu gehen und sich ihnen so zu zeigen. Aber nein, das wäre grausam gewesen.
    Luisa warf einen Blick zum Mond. Sie wusste, was sie vorhergesehen hatte, die Tage und Monate und Jahre und Jahrhunderte und Ewigkeiten von Veränderungen in der Zukunft. Aber diese eine Entscheidung zumindest würde nur Auswirkungen auf ihr eigenes Leben haben. Der Pfad, für den sie sich heute Nacht entschied, würde entweder mit einem friedlichen Schlaf enden oder sie auf eine Reise durch die Ewigkeit führen.
    Sei glücklich, Luisa.
    »Das werde ich, John.« Luisa warf noch einen letzten Blick zurück auf das Lighthouse, bevor sie in die Nacht davonging.

Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel Stay the Night
    bei Onyx, published by New American Library,
    a division of Penguin Group ( USA ) Inc.
    Deutschsprachige Erstausgabe März 2013 bei LYX
    verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH,
    Gertrudenstraße 30–36, 50667 Köln
    Copyright © 2009 by Sheila Kelly
    Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013
    bei EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
    Alle Rechte vorbehalten
    Redaktion: Nicola Härms
    Umschlaggestaltung: Birgit Gitschier, Augsburg
    Umschlagabbildung: © Mona Kashani-Far, München
    unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock
    Satz und eBook: Greiner & Reichel, Köln
    ISBN 978-3-8025-9060-3
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