Darkyn: Versuchung des Zwielichts (German Edition)
Luisas Spezialbett für Verbrennungen. Er las mit ruhiger Stimme Psalmen aus der Bibel vor, während die Patientin aus dem Fenster auf der anderen Seite des Zimmers starrte.
Alex überlegte kurz, ob sie sich auf dem Absatz umdrehen und gehen sollte. Das versaut mir endgültig den Tag. Stattdessen zwang sie ihre Lippen zu einem professionellen Lächeln. »Das klingt nicht wie der neueste Linda-Howard-Roman.«
Der Priester hörte auf zu lesen und legte die Bibel beiseite. »Hallo, Alexandra.«
Vater John Keller, Alex’ einziger Bruder und alles, was von ihrer Familie übrig war, lief nicht auf sie zu, um sie zu umarmen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich zuletzt berührt hatten, aber sie nahm an, dass es vor seinem Eintritt in das Priesterseminar gewesen sein musste. Damals war Alex eine dünne Fünfzehnjährige gewesen, die ihn bewundert hatte und ihm überallhin nachgelaufen war, weil er der tollste große Bruder auf dem Planeten war. Selbst, als er davon sprach, Priester werden zu wollen, war sie davon überzeugt gewesen, dass sich dadurch nichts ändern würde. Sie hatte John mehr geliebt als irgendjemanden sonst.
Aber John hatte sich verändert. Gott war ihm wichtiger gewesen als sie, und Alex hatte lernen müssen, dass sie mit dem Allmächtigen nicht konkurrieren konnte.
»Was für eine tolle Überraschung.« Nein, war es nicht; sie brauchte Luisa und John plötzlich so dringend wie ein Match im Wrestling-Käfig. »Ich dachte, heute wäre Fütter-den-Junkie-Tag drüben in St. Luke.«
»Das ist montags und freitags.« John blickte Luisa an. »Heute besuche ich die ans Bett Gefesselten und die Krankenhäuser.«
»Da bist du ja ziemlich weit gefahren.« St. Luke, die Chicagoer Gemeinde, in der ihr Bruder seit fünf Jahren arbeitete, befand sich auf der anderen Seite der Stadt. Alex fielen spontan zwei Krankenhäuser ein, die näher lagen als ihres.
»Das macht mir nichts aus«, meinte John. In der Kirche trug er die lange schwarze Soutane seines Ordens, aber heute war er in seiner Version von Straßenkleidung erschienen, einem einfachen schwarzen Anzug. Und die Sachen standen ihm gut; wenn der Priesterkragen nicht gewesen wäre, hätte man ihn für irgendeinen Geschäftsmann aus der Innenstadt halten können.
Gottes Rechnungsprüfer, der sich die Bücher ansehen will. Alex schluckte ihre säuerliche Belustigung herunter und ging zu dem Spezialbett hinüber, um die vielen tragbaren Monitore zu überprüfen, die es umgaben.
Luisa Lopez’ Gesicht wandte sich langsam um und folgte Alex’ Bewegungen. Eine Schicht Spenderhaut bedeckte ihr Kinn und ihren Nacken, nicht, um die Haut zu ersetzen, die sie verloren hatte, sondern um die freiliegenden Muskeln zu schützen, bis im Labor genügend ihrer eigenen Hautzellen nachgezüchtet worden waren und man während der kosmetischen Phase ihrer Behandlung mit den Transplantationen beginnen konnte.
Wenn wir es bis dahin schaffen . Alex war sich immer noch nicht sicher; wenn Luisa es nicht irgendwann selbst erledigte, konnte sie an jeder größeren Infektion sterben. »Wie geht’s dir, Lu?«
»Shei. Ta.« Hitzeschäden an ihrem Kehlkopf und ihren Lungen ließen sie in einem kaum verständlichen Hauchen Worte in einzelnen Silben hervorstoßen.
»Ist heute auch nicht mein Tag.« Sie überprüfte Luisas Vitalfunktionen und träufelte ihr dann vorsichtig einen Tropfen Tränenflüssigkeit auf die Hornhaut ihrer wütend funkelnden Augen. »Die Michigan Avenue war bis zum Pier runter verstopft. Ich wäre wahrscheinlich schneller hier gewesen, wenn ich in den See gesprungen und geschwommen wäre.«
Die Muskeln um Luisas Augen zogen sich zusammen. Hätte sie noch Augenlider gehabt, wäre es ein Blinzeln gewesen. »Trink.«
Alex hielt ihr die Wassertasse mit dem Strohhalm an den verletzten Mund, aber nach dem ersten Schluck wandte Luisa sich ab. »Schluck noch ein bisschen mehr. Du brauchst die Flüssigkeit.«
»Al. Ko. Ho«, krächzte sie heiser. »Whis. Key.«
»Zu den vielen Betäubungsmitteln, die du bekommen hast, weil du dir die Infusionen rausgerissen hast?« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn ich das mache, Süße, dann war’s das für dich.«
»Schei. Wei. ße«, zischte Luisa, sodass die zerklüfteten Reste ihrer Schneidezähne zu sehen waren.
»Ich nicht.« Alex strich mit dem Finger über Luisas Stirn, einer der wenigen Stellen auf Luisas Oberkörper, an denen nicht auf sie eingeschlagen oder eingestochen worden war oder die verstümmelt oder
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