Darling Jim
vergeblich.
Eines Dienstags sah ich bei dem alten Strand Richtung Eyeries einen grünen Schal im Wind flattern.
Wir drei hatten ihn Moira vor einigen Jahren zu Weihnachten geschenkt, und unsere Tante hatte ihn um ihren Kopf gewickelt, als lebe sie noch in den Fünfzigerjahren. Sie wühlte in der Erde neben dem Baum, unter dem ich ihren heiß geliebten Jim ins Jenseits befördert hatte. Zuerst blieb mir vor Schreck die Luft weg, aber dann beruhigte ich mich. Dort würde sie nichts finden. Vielleicht hatte sie ja im Wald ein Zelt aufgeschlagen und verbrachte jede wache Minute an dem Ort, an dem ihr Verlobter gestorben war. Nein, so sentimental war nicht einmal Tante Moira. Sie war schon gefühlskalt gewesen, bevor sie den Verstand verlor. Sie hüpfte umher wie ein Spatz auf einem heißen Dach. Sie sucht nach etwas, dachte ich, und mir wurde schlecht. Sie sucht und wird erst aufhören, wenn sie etwas gefunden hat. Aber es gab keine Beweise mehr zu finden, denn die Cops hatten den Tatort schließlich mit Bluthunden abgesucht.
Ich schlich mich fort und radelte, so schnell ich konnte, nach Hause. Etwas an der Art, wie sie sich bewegt hatte, machte mir mehr Angst als die Vorstellung, sie könne etwas Belastendes gefunden haben. Sie war herumgekrochen wie ein Krebs, ein gefühlloses Tier, das so lange gegen ein Hindernis ankriecht, bis es überwunden ist.
»Habt ihr es schon gehört?«, fragte Aoife ein paar Tage später, als sie mit zwei Einkaufstüten nach Hause kam, die sie auf dem Tresen abstellte. »Jonno sagt, Tante Moira sei weggezogen. Er hat sie heute Morgen am Busbahnhof gesehen, während sie ihre Koffer in den Bus nach Dublin geladen hat. Offenbar hat jemand ihr Haus gekauft.«
Mir fiel ein Wackerstein vom Herzen, und ich umarmte sie wie eine Verrückte. »Ich könnte dich küssen«, schrie ich und wirbelte sie im Walzerschritt durch das Wohnzimmer, bis wir lachend auf einem Sessel landeten. Wir hatten uns bisher noch keine neuen Möbel leisten können, sondern die Risse in den Sofas mit Klebeband abgedeckt. Jedes Mal, wenn ich daran vorbeiging, dachte ich an Jim, und ich kann mir nicht vorstellen, wie Aoife sich fühlen musste. Fiona schüttelte ihr altersweises Haupt und zündete für uns drei eine Zigarette an.
Erst ungefähr eine Woche später fiel mir auf, dass Aoifes Taxifahrten länger und länger dauerten.
»Fährst du deine Kunden jetzt bis nach New York? Gibt's da jetzt einen Tunnel?«, fragte ich neugierig, aber mein Zwilling grinste nur und sagte, sie müsse mehr Aufträge annehmen, um die Rechnungen zu bezahlen. Wenn sie sich unbeobachtet fühlte, spannte sich der Muskel zwischen ihren Augenbrauen an, und sie sah sehr ernst aus. Genau wie ich, wenn ich etwas zu verbergen habe. Also ließ ich sie in Ruhe.
Du wirst dich freuen zu hören, dass ich es endlich schaffte, Evi ans Telefon zu bekommen. Sie hatte die vergangenen Monate in den Armen einer abchasischen Architektin verbracht, die offenbar »sooo klug und sensibel war«, dass sie mich schlichtweg vergessen hatte. Wir beendeten unsere Beziehung mit einem Streit, der meine Schwestern drei Nächte lang um den Schlaf brachte.
Eine Woche später verbrachte ich das letzte Mal Zeit allein mit Aoife. Wir drei hatten Jonno zum Abendessen eingeladen. Während Fiona und er die Steaks zubereiteten, die er mitgebracht hatte, saß ich mit Aoife draußen und genoss mit ihr das letzte Tageslicht. Ich hätte merken sollen, dass irgendetwas anders war, dass sie etwas in ihrem Inneren verbarg und unnatürlich wirkte, aber unsere inneren Kompasse hatten seit unserer ersten Begegnung mit dem Mistkerl nicht mehr einwandfrei funktioniert. Sie trug meine Lieblingslederjacke mit dem von Hand gemalten Oscar-Wilde-Porträt auf dem Rücken. Ich hörte, wie Jonno dröhnend über einen Witz von Fiona lachte. Auf keinen Fall wollte ich die Stimmung verderben, aber ich musste noch etwas wissen. Denn wie gesagt, ich weiß einiges über das Wesen der Zeit. Und es lässt mir keine Ruhe, wenn irgendetwas daran nicht zu stimmen scheint.
»Als du damals noch einmal zu Jim zurückgegangen bist«, begann ich, ohne sie anzusehen, »da warst du ziemlich lange weg. Viel länger, als es gedauert hätte, das Messer zu holen.«
Der Wind blies von der See über uns hinweg und übertönte ihre Antwort. Ich fragte noch einmal. Aoife versuchte zu lächeln, als sei sie über die Sache hinweg.
»Ich habe seinen Ärmel aufgerollt«, sagte sie und umklammerte ihre Zigarette mit beiden
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