Darling Jim
Händen wie einen Anker. »Weil ich mir sein Tattoo genau ansehen wollte. Fiona hatte mir davon erzählt, und es gab die wildesten Theorien darüber, was es bedeutete. Und als er auf mir lag, hielt er es mir vors Gesicht wie ein Pfadfinderabzeichen. Aber weil er mich mit der anderen Hand verprügelt hat, konnte ich es nicht richtig erkennen.« Sie holte tief Luft, und mir wurde bewusst, dass wir über jene Nacht nie gesprochen hatten, obwohl wir einen Mord geplant hatten, um sie zu rächen. Aoifes Bauch krampfte sich unter dem Seidenkleid, das sie Fiona geklaut hatte, zusammen.
»Hör mal«, warf ich ein. »Du musst das nicht ... «
»Doch, das muss ich. Ich wollte mich davon überzeugen, dass er wirklich tot ist, verstehst du? Also habe ich auch auf ihn eingestochen. Damit ihr zwei nicht die ganze Bürde getragen hättet, falls Bronagh über Nacht ein neues Gehirn gewachsen wäre.« Sie atmete aus und sagte dann: »Es war kein Wolf, falls es dich interessiert. Das Tattoo. Zuerst konnte ich es nicht genau erkennen, also wischte ich das Blut ab. Und dann sah ich es. Es waren Zwillinge. Zwei Jungen, die sich an den Händen hielten. In einem Wald. Vermutlich dem Wald aus seiner Geschichte.«
Ich dachte an ein anderes Gesicht aus unserer jüngeren Vergangenheit, an braune Haut und zwei unstete Augen, die alle auf Distanz hielten. Der Manager des Teufels, der Mann mit dem Filzhut, der vorgab, dass ihm das Kleingeld genügte, das Kinder und ihre Mütter ihm nach einer guten Show hineinlegten.
»Tomo«, sagte ich. »Jims Partner.« »Was ist mit ihm?«
»Fiona hat doch erzählt, dass Tomo „Kamerad“ auf Japanisch heißt, oder?«, fuhr ich fort. »Jim muss den Kerl so geliebt haben, dass er sich das Tattoo machen ließ. Als seien sie Zwillinge oder so.«
»Klar«, sagte Aoife und drückte die Zigarette vor dem ersten Zug wieder aus. »Und dann hat er ihm den Schädel eingeschlagen.«
»Abendessen, Mädels«, schrie Fiona, die den Wein öffnete und dabei Jonnos Avancen auswich.
Während ich hier sitze und dies aufschreibe, könnte ich mich immer noch treten, weil ich mit meiner Schwester nach innen ging, ohne zwei und zwei zusammenzuzählen. Ich hätte es merken müssen, aber ich dachte nicht darüber nach. Fiona sagt immer, diese Art von Selbstkritik bringe einen nicht weiter, und vielleicht hat sie ja recht damit.
Kurz bevor sich die ersten Blätter herbstlich gelb färbten, verließ Aoife die Stadt.
Es muss an einem Donnerstag gewesen sein, denn an diesem Tag fuhr ich immer zum Postamt an der Hauptstraße und holte unsere Briefe.
Ich kramte den Schlüssel heraus, öffnete das Postfach und zog ein paar grelle Werbeprospekte und einen Brief heraus. Ich wollte ihn zuerst achtlos in meine Tasche stecken, aber dann sah ich mir den Umschlag genauer an. Alle Geräusche in meiner Umgebung wurden schlagartig zu Gemurmel abgedämpft, sogar die Schreie der Kinder, die sich um Eiskremwaffeln stritten.
Ich öffnete den Brief. Er begann mit einem jovialen
Hi, Mädels,
Ich radelte so schnell zum Cottage zurück, dass sich meine Lungen anfühlten, als habe jemand Batteriesäure hineingekippt. Ohne ein Wort zu sagen, packte ich Fiona im Nacken und zwang sie, sich den Brief anzusehen. Dann krümmte ich mich auf der Couch zusammen und hielt mir die Ohren zu. Ich konnte nicht einmal zu meiner Schwester hinsehen, denn ich hatte an jenem Abend in Aoifes Augen geblickt und verstand jetzt, was ich dort gelesen hatte. Ein langes Abschiedstelegramm.
Fiona nahm den Brief aus dem Umschlag und las. Dann strich sie das Blatt mit der Handfläche glatt und sah mich an. Ich weiß nicht, wie lange ich brauchte, um meine Angst zu überwinden, aber schließlich ging ich zu ihr und begann zu lesen. In dem Brief stand:
Ich musste weg. Macht euch keine Sorgen. Das gilt besonders für dich, Rosie, alte Heulsuse. Es ist ja nicht für immer, aber ich werde wohl eine Weile nicht wieder in die Stadt zuriick kommen. Es hat nichts mit euch beiden zu tun, und ich verliere auch nicht den Verstand, weil Tim mir das angetan hat. Irgendwann werde ich euch alles erklären. Und wenn dieser Tag kommt, dann werdet ihr mir hoffentlich für das vergeben können, was ich jetzt tun muss.
Mögen unsere Eltern vom Himmel aus über euch wachen und
euch beschützen, bis es so weit ist. Ich liebe euch beide mehr, als ihr euch vorstellen könnt. Für immer eure Schwester Aoife
Ich muss den Brief hundertmal gelesen haben, aber er ergab dennoch keinen Sinn für mich.
Weitere Kostenlose Bücher