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Darling Jim

Darling Jim

Titel: Darling Jim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mork
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Schleier und drehte den Kopf, als spüre sie, dass ich sie beobachtete. Ich senkte sofort das Fernglas.
    Aber Tante Moira hatte mich gesehen, das weiß ich ganz sicher.
    Und seitdem bezahle ich dafür.
    Die Zeit ist ein merkwürdiger Geselle. Dass sie alle Wunden heilt, stimmt nun wirklich nicht. Aber sie lässt die Menschen schon bald Details vergessen, was meiner Meinung nach die Barmherzigkeit der Natur ist.
    Zuerst erinnern sich die Leute nicht mehr genau an die Umstände von Ereignissen, auch wenn sie selbst dabei waren. Hatte Jim nun drei oder zwei Frauen getötet? Waren seine Augen haselnussbraun gewesen, wie die meisten behaupteten, oder doch eher grün? Solche Fragen stellen sie sich. Und wenn genug Zeit vergangen ist, vergessen die Leute das tatsächliche Ereignis und geben sich mit dem Mythos zufrieden. Und so war es mit den mörderischen Walsh-Schwestern, denn wir wurden in allen Anklagepunkten freigesprochen. Nach vier Wochen täglichem Verhör in der Hauptstraße und langweiligen Treffen mit Beamten in Cork City, die noch prächtigere Epauletten hatten, ließen uns die Bullen laufen.
    Die gute Bronagh wusste natürlich genau, dass wir schuldig waren, wie auch die meisten Bewohner von Castletownbere und den umliegenden Dörfern. Dies machte uns augenblicklich zu lebenden Legenden, als verzweifelte Frauen, mit denen nicht zu spaßen war. Mein früheres Image als Sexmonster war mit diesem Ruhm nicht zu vergleichen. Wir schafften es nicht, uns von diesem Mythos zu befreien, also nickten wir den Leuten freundlich zu und blieben unter uns.
    Schließlich verschwanden die Fernsehkameras und Journalisten aus unserem Vorgarten, den sie in den vergangenen Wochen in ein schlammiges Feld verwandelt hatten. Die Jungs von Sacred Heart tuschelten wie früher, wenn wir vorbeigingen, aber nicht mehr, weil sie uns auf den Hintern gestarrt hatten. Jetzt wagten sie nicht einmal mehr, uns in die Augen zu sehen. Fiona sagte sogar, die Leute würden uns für schwarze Hexen halten. Von wegen. Ich hätte eine Menge für ein bisschen Voodoo gegeben, wenn Evi dann endlich einmal zurückgerufen hätte.
    Aber die Zeit hatte es nicht geschafft, Tante Moiras schmerzliche Erinnerungen verblassen zu lassen.
    »Nicht mehr ganz richtig im Kopf«, beschrieb Jonno ihren Zustand. Sie hustete sich fast die Lungen aus dem Leib, seit sie sich bei ihrer tagelangen Totenwache auf Jims Grab eine schlimme Lungenentzündung geholt hatte. Wir hatten alle Angst davor, ihr zufällig auf der Straße zu begegnen, aber das geschah nie. Ich schlich ein paar Mal an ihrem Bed & Breakfast vorbei und sah ein ZU-VERKAUFEN-Schild im Fenster hängen. Ein paar Wochen später war es verschwunden, und ein paar Handwerker reparierten den Kamin, der schon lange eine Generalüberholung nötig gehabt hatte.
    An den Tagen, an denen Fiona in der Schule unterrichtete (du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass die Rektorin eine echte Prominente entlassen würde, oder?) und Aoife in dem alten Opel, den sie sich von der Versicherungssumme für den Benz gekauft hatte, Touristen in der Gegend herumkutschierte, versuchte ich, unsere Tante zu finden. Nenn mich ruhig morbide oder krank, ich habe schon schlimmere Schimpfnamen überlebt. Aber ich wollte wissen, warum sie noch nicht auf unserer Türschwelle erschienen war, alttestamentarische Drohungen ausgestoßen und mit der Bibel gewedelt hatte. Zu wissen, wo sie sich aufhielt, hatte mir jahrelang Sicherheit gegeben. Es machte mich fast verrückt, dass sie jetzt überall und nirgends zu sein schien. Ich schlich mit meinem Fernglas umher wie ein seniler Grenzbeamter und hoffte, einen Blick auf sie zu erhaschen.
    Was mir die größten Sorgen machte, war die Tatsache, dass sie nie zum Friedhof zurückkehrte, auf dem es übrigens immer von Frauen wimmelte. Das Grab war von Blumen übersät, und Bronagh musste eine Wache abstellen, damit sich niemand mit Jims Grabstein davonmachte. Schließlich ließ sie den Sarg einbetonieren, denn sie hatte keine Lust, eines schönen Tages im Macroom BQ anrufen zu müssen, weil jemand die Leiche geklaut hatte. Natürlich hatten Jims eifrige Jünger die Vincent Comet bereits gehoben und die Einzelteile für horrende Summen bei eBay verkauft. Die letzte Reliquie, ein halber Bremszug, war wie eine Dornenkrone um den Schädel auf Jims Grab gewickelt. Ich aß viele trockene Schinkenbrote, starrte das Ding an und wartete darauf, dass die trauernde Witwe sich blicken ließ. Aber ich wartete

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