Darling Jim
Dunkelheit sie, und Niall war mit dem Regen und seinem neuen Schatz allein.
Nachdem er eine Stunde lang über offene Felder gehumpelt war, lief er direkt in eine Steinmauer.
Es war unmöglich festzustellen, wie das Gebäude aussah, denn die Berge waren jetzt von dichten Wolken bedeckt, die sich wie dicke, graue Schlangen um die Gipfel gewunden hatten. Niall tastete sich zu einer Tür vor und gab ihr einen leichten Stoß. Knarrend gab sie nach, und er war im Inneren. Seine Finger fanden einen Lichtschalter, aber der funktionierte nicht. Er stolperte weiter, bis er an etwas Weiches stieß. War das ein Sofa? Ein Sessel? Vorsichtig ließ er sich darauf nieder, denn zumindest war das Ding trocken. Im oberen Stock tropfte rhythmisch Wasser durch das kaputte Dach. Nialls Knöchel tat höllisch weh. Aber seine Neugier war stärker als jeder Schmerz.
Er schaltete sein Handy ein und richtete den kleinen LCDBildschirm auf das Notizbuch in seinem Schoß. Würden seine Verfolger das schwache, blaue Licht entdecken? Er ließ seine provisorische Lampe über den Boden leuchten und sah Rattenköttel und Papierfetzen. Hier war schon lange niemand mehr gewesen. Niall versteckte das Handy und starrte dorthin, wo er das Fenster vermutete. Weit und breit kein Licht zu sehen. Hatte Mary Catherine ihren Vater also doch in die andere Richtung geschickt? Niall schaltete seine erbärmliche Leselampe wieder ein und beschloss, das Risiko einzugehen. Die Batterie war noch mehr als halb voll und es musste bald hell werden.
,“Verrat mir deine Geheimnisse, Roisin«, flüsterte er, schlug das Buch auf und begann zu lesen.
TEIL DREI ROISINS TAGEBUCH
XVI.
Seit meinem siebten Lebensjahr höre ich Stimmen.
Ich weiß, was du jetzt denkst. Armes, einsames Mädchen, lebt schon seit seiner frühen Kindheit zurückgezogen und allein. Zweifellos liegt in diesem antisozialen Verhalten die Ursache für seinen Alkoholmissbrauch und sein unstillbares Verlangen nach Kurzwellensendern, die ihm echte menschliche Wärme ersetzen sollen. Klar, dass so jemand schwarze Jeans trägt und irgendwann in den Armen einer kleinen Hobbynutte landet, stimmt's? Aber weißt du was? Nimm dein politisch korrektes Mitleid, und nerv jemand anderen damit. Ich habe nämlich ein wunderbares Leben gehabt. Ich schwebte auf einer bunten, aus den Schwingungen fremder Stimmbänder geformten Wolke durch die Welt, die mir anfangs nur aus billigen Transistorradios entgegenströmten. Wenn ich meine Augen schloss, wanderte ich durch die Wüste Kalahari oder segelte auf den sieben Weltmeeren. Und das alles, ohne das Haus zu verlassen. Das Zimmer, das ich mit meinen Schwestern teilte, war nämlich winzig. Aoife und ich schliefen im selben Bett, bis zu dem Unfall, der uns zu Waisen machte. Und in all den Jahren, die ich in Tante Moiras Bed & Breakfast verbrachte, machten die unsichtbaren Radiowellen all die öden Sonntage erträglich und verwandelten alle langweiligen Alltagsgeräusche in Symphonien.
Ich bin diesen Stimmen seit meiner Kindheit treu, denn sie haben mich nie im Stich gelassen.
Das Zimmer, in dem ich diese Zeilen für dich niederschreibe, ist so klein, dass es den Namen eigentlich nicht verdient. Es ist ein Hohlraum in der Mauer des Dubliner Hauses meiner Tante Moira, und Fiona meint, wir werden es nie mehr verlassen, zumindest nicht lebendig. Vielleicht hat sie recht, ich weiß es nicht mehr. Ich bin inzwischen die ganze Zeit zu müde, um noch viel zu analysieren, aber ich spüre, dass ich allmählich die Hoffnung verliere. Fiona plappert ununterbrochen. Das war schon immer so. Ich liebe sie über alles, aber manchmal muss man die Hälfte ihrer Worte wegstreichen, wenn man verstehen will, was sie eigentlich meint. Ganz zu schweigen von ihrem bescheuerten Pharaofetisch.
Ich weiß, dass ich inzwischen genauso schwach bin wie sie, und ich sehe ganz nebenbei auch scheußlich aus. Aber in einem muss ich ihr recht geben: Auch ich habe das Gefühl, dass meine Eingeweide sich selbst auffressen, wie in dem Albtraum, den sie neulich hatte. Als würde sich meine Magenschleimhaut langsam auflösen. Irgendwas im Essen, sagt sie. Mann, wenn sie diesen Fraß noch einmal als Essen bezeichnet, dann haue ich ihr eine rein. Mit etwas, das wehtut. In Wirklichkeit habe ich nicht einmal mehr genug Energie, um aufzustehen und nach der Schaufel zu suchen, die Fiona gerade geklaut hat.
Rettung.
Ich träume davon, selbst wenn ich wach bin und versuche, das dumpfe Gefühl aus meinem Kopf zu
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