Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Darling Jim

Darling Jim

Titel: Darling Jim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mork
Vom Netzwerk:
überwuchert, andere hingegen so liebevoll gepflegt wie Kriegsgedenkstätten. Aber dies war nur der äußerste Kreis der Lichter auf dem terrassenartig angelegten Friedhof, in dessen Zentrum eine rote Flamme so hell leuchtete, dass sogar die weit entfernten Bäume wie schwebende Funken erglühten.
    »Wer ist da?«
    Die Stimme einer jungen Frau, gleichzeitig ärgerlich und verängstigt. Niall schlich sich zu einer Hecke, von der aus er die Umrisse einer weiblichen Gestalt ausmachen konnte, die lang gestreckt auf einem Grab ruhte. Er gab keine Antwort. Die Gestalt erhob sich, schüttelte ungeduldig ihr langes Haar und begann, die Gegend abzusuchen.
    »Bist du das, Seamus? Willst du schon wieder unsere Opfergaben stehlen? Diesmal gibt es wirklich Ärger, das sage ich dir!» Wie alt sie wohl sein mag, fragte sich Niall und duckte sich zwischen zwei eingesunkene Grabsteine. Ungefähr sechzehn, schätzte er. Ihre Stimme hatte die klare Sicherheit, die man nur bei fanatischen Gläubigen findet. Er hielt sich weiterhin geduckt und sah sie erst wieder deutlich, als sie zu ihrem ursprünglichen Platz zurückkehrte und sich - diesmal im Lotussitz - auf das Grab setzte.
    Bald stieg ein Summen in den feinen, scharlachroten Nebel auf, das Niall für leisen Gesang hielt. Er verließ sein Versteck und schlich sich näher heran. Bald war er der Sängerin so nahe, dass er ihr Patchouli-Parfüm riechen und ihre Worte verstehen konnte. Ihm stellten sich die Haare auf.
    Das Mädchen sang ein Loblied auf den Toten, auf dessen Grab sie saß.
    » ... der Schönste, gesegnet seien deine Augen. Du bist der Gütigste, gesegnet sei dein Herz. Du bist voll Großmut, gesegnet seien deine Taten. Du bist der ... »
    » ... abartigste Serienkiller, der West Cork jemals heimgesucht hat?«
    Das Mädchen schoss vor Schreck senkrecht in die Höhe, als sie Nialls Stimme hörte, und wirbelte zu dem langhaarigen Eindringling herum, der vor ihr aufgetaucht war wie Lazarus aus dem Grab. »Wer ... du hast hier nichts zu suchen!«
    »Genauso wenig wie du, glaube ich.«
    »Bist du ein Tourist, der gekommen ist, um den Namen eines guten Mannes in den Schmutz zu ziehen?« Ihr Mund war im Halbdunkel nicht zu erkennen, aber sie atmete durch zusammengebissene Zähne, laut und beunruhigend.
    Niall stellte sich direkt vor das Mädchen und las die Inschrift des Grabsteins.

    HIER LIEGT TIM QUICK VOM WEIBE GEBOREN VOM WEIBE GEMORDET RUHE IN FRIEDEN
    Gott oder ein kirchlicher Segen hatten keinen Platz auf dem Stein gefunden. Niall vermutete, dass es schon beinahe einer Revolution gleichgekommen war, dass der Mistkerl überhaupt ein anständiges Begräbnis bekommen hatte. Unzählige Kerzen, Rosenkränze, tibetische Gebetsperlen und etwas, das wie ein menschlicher Schädel aussah, in den ein Herz eingraviert war, lagen auf dem Boden vor dem Grabstein. Verrottende Früchte, halb volle Whiskyflaschen und Hunderte - nein, Tausende! - von Hand beschriebene Zettel sprachen von der Verehrung, die diesem Grab zuteil wurde. Das Mädchen streichelte den kalten Stein zärtlich. Sogar tot ist der alte Jim noch ein echter Frauenheld, dachte Niall.
    »Ich fürchte, ein paar Frauen, denen er über den Weg gelaufen ist, halten ihn für alles andere als einen guten Mann«, sagte Niall und ließ die Hände des Mädchens nicht aus den Augen. Sie merkte es und behielt sie hinter ihrem Rücken. Ihm fiel das Bild von dem von Messer schwingenden Furien umzingelten Wolf ein, an das er im Zug gedacht hatte, und er wich unwillkürlich ein paar Schritte zurück.
    »Du hältst seine Mörderinnen also für heldenhaft?«, zischte das Mädchen. »Sie haben ihn feige weit draußen vor der Stadt ermordet, wo ihm niemand helfen konnte. Sie ließen ihn verbluten wie einen Hund!« Ihr knöchellanges Kleid erbebte, als irre Wut ihren Körper wie ein Nervengift schüttelte.
    »Sie haben es also doch geschafft? Die Walsh-Schwestern?« Das Mädchen verschränkte die Arme und betrachtete Niall einen Moment lang aufmerksam. Einige Kerzen erloschen zischend. Er glaubte, in ihrem Gesicht neues Interesse zu entdecken. »Du bist doch heute in Sacred Heart eingebrochen, oder? Doch, der bist du.« Sie trat in den Lichtschein eines Kerzenrings, der auf einem umgefallenen Grabstein aufgestellt war, und nun sah Niall, dass sie keinen Tag älter als vierzehn sein konnte. In den weit auseinanderstehenden Augen in ihrem maskulin wirkenden Gesicht stand nicht mehr Mordlust, sondern nur noch brennende Neugier. »Du musst das

Weitere Kostenlose Bücher