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Darling Jim

Darling Jim

Titel: Darling Jim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mork
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erste Tagebuch haben. Kann ich es sehen? Ist es echt? Bitte!«
    Niall wich noch weiter zurück, bis er an den Rand der obersten Terrasse stieß. Unter ihm befand sich nur steil abfallende Dunkelheit. Es war unmöglich abzuschätzen, wie tief er fallen und wie hart er landen würde, wenn er sprang. »Hast du dann Roisins Tagebuch gesehen?«, erwiderte er. »Ist das echt?«
    Das Sternenkind streckte die Hand aus, als wolle es sich vergewissern, dass Niall aus Fleisch und Blut war und nicht ein Prophet aus ihren Fieberträumen, der bald wieder im Äther verschwinden würde. »Ich habe es nicht selbst gesehen«, antwortete das Mädchen, das, wie Niall nun sah, eine Kette aus getrockneten Irisblüten um ihren dünnen Hals trug, was ihm merkwürdigerweise mehr Angst einjagte als alles andere. »Aber die alte Mrs. Kane sagt, dass Father Malloy es vor seinem Tod bekommen hat. Niemand weiß, wo es sich jetzt befindet. Es ist verschwunden.« Ihre Augen flackerten auf, und ihre Stimme brach. »Verloren. Alles ist verloren.«
    »Wissen deine, äh, deine Eltern, dass du nachts hier draußen bist? «, fragte Niall und sah aus dem Augenwinkel einen Lichtschein in den Baumwipfeln aufblitzen. Vielleicht die Scheinwerfer eines Autos. »Sie machen sich doch bestimmt Sorgen um dich.«
    Das Wesen antwortete nicht, sondern schaute auf irgendetwas hinter Niall. Ihr schmales Gesicht wirkte verwirrt, als sei die Kavallerie zu früh eingetroffen. Oder womöglich sogar uneingeladen aufgetaucht.
    »Die sind hier auch nicht willkommen!«, zischte sie und presste kämpferisch die Lippen zusammen.
    Niall drehte sich um und sah auf der Straße hinter der Mauer mehrere Taschenlampen aufleuchten. Ziemlich viele. Er hörte das leise Murmeln von Männerstimmen, und sein Herz schlug schneller. Der Ausweg war versperrt. Niall starrte in die Dunkelheit unter sich und wusste, dass ihm keine Wahl blieb, besonders falls einer der Männer Mary Catherines Vater sein sollte.
    »Pass auf dich auf, Kleine«, sagte er und rannte los.
    Er sprang, so weit er konnte, in die schwarze Nacht und wartete auf den Schmerz.
    Dumpf prallte er mehrere Terrassenstufen weiter unten auf weichen Erdboden. Sein Knöchel pochte zwar, aber er konnte ihn belasten. Um ihn herum roch es nach frischem Schlamm, und er segnete den Regen der letzten Tage. Über ihm zeichneten sich am Rand der obersten Terrasse kräftige Männergestalten ab, die mit ihren Taschenlampen nach ihm suchten. Um sie herum leuchtete der rote Kerzenschein, und sie sahen aus wie die Racheengel aus den Visionen des armen Mädchens.
    »Da ist er!«, schrie einer. »Hierher!«
    Niall rutschte auf dem feuchten Boden aus, aber die Angst verlieh ihm Flügel, und er begann trotz des Schmerzes zu laufen, schneller und weiter als jemals zuvor in seinem Leben. Sein Knöchel schmerzte jetzt, als hätte ihm jemand einen Glassplitter durch die Fußsohle bis ans Knie getrieben, aber er hetzte weiter. Das Letzte, was er hörte, bevor er über eine Hügelkuppe verschwand und die roten Lichter aus den Augen verlor, war das hysterische Kreischen einer Mädchenstimme. Es gellte durch die Nacht wie der Ruf eines Schäfers nach seiner Herde.
    »Komm zurück«, flehte die Stimme. »Ich will das Tagebuch.
    Komm zurüüüüüüück!«
    Niall hörte das drängende Flüstern noch, bevor er richtig wach war. Die Stimme eines Kindes drang in seinen merkwürdigen Traum ein, in dem Hippiemädchen durch ihren Gesang Tote wieder zum Leben erweckten.
    »Wach auf, Herr Briefträger.«
    Er schreckte auf und setzte sich aufrecht hin. Es war immer noch dunkel, und er sah nur seine eigenen nassen Stiefel. Wann war er eingeschlafen? Er erinnerte sich nicht. Wie lange hatte er in seinem Versteck zwischen mit Moos bewachsenen Felsvorsprüngen gelegen und friedlich gedöst? Erneut stieg Panik in ihm auf, und er sah sich hektisch nach dem Lynchmob mit Laternen und Hanfseilen um. Aber er sah und hörte nichts außer dem Rascheln nachtaktiver Tiere. Niall gestand sich genervt ein, dass Mr. Raichoudhury schon wieder recht gehabt hatte, auch wenn er sich auf der anderen Seite Irlands befand. Und er fragte sich, wie lange der Todeskampf des alten Lehrers gedauert hatte, der auf dem staubigen Marktplatz saß und versuchte, die Essenz des einen perfekten Bildes aufs Papier zu bringen.
    »Ich bin hier!«
    Niall blieb vor Schreck beinahe das Herz stehen, und er rappelte sich hastig auf. Es war kein Traum gewesen! Sein geschwollener Knöchel meldete sich empört zu

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