Darling Jim
vertreiben, das sich dort eingenistet hat. Ich schließe die Augen und denke an endlose Horizonte. Manchmal träume ich von Bergsteigern, die von Helikoptern in letzter Minute von windumtosten Gipfeln gepflückt werden. Dann wieder von der Besatzung eines U-Boots, die den Rettungstauchern draußen durch Morsezeichen zu verstehen geben, dass in ihrem stählernen Gefängnis der Sauerstoff knapp wird.
Gerade jetzt sehe ich eine einsame Matrosin auf einem endlosen Ozean vor mir. Sie konnte sich auf ein Rettungsfloß retten, als ihr Schiff kenterte und sank, und seit Wochen versucht sie vergeblich, die Flugzeuge auf sich aufmerksam zu machen, die immer wieder über sie hinwegfliegen. Sie hat nur überlebt, weil sie Vögel gefangen und bis auf die Federn abgenagt und verschlungen hat. Es hat seit Tagen nicht geregnet, und ihre Zunge ist so dick angeschwollen wie eine Kartoffel. Inmitten ihres Deliriums, ihres Durstes, ihrer Hoffnungslosigkeit hört sie das Geräusch von Propellern und blickt auf. Da! Ein großes, weißes Wasserflugzeug. Es ist wunderschön, und es fliegt in einer Kurve so dicht über sie hinweg, dass sie die getrockneten Benzinspritzer an dem zerbeulten, silbernen Fahrgestell erkennen kann. Sie lehnt sich zurück und versucht, sich an den Klang ihres eigenen Namens zu erinnern, denn sie hat seit mehr als einem Monat kein Wort mehr gesprochen.
Wenn ich es mir recht überlege, habe ich das auch nicht. Zu meiner Schwester sage ich zwar »Danke« und »Ich liebe dich«, aber das zählt nicht.
Den ganzen Tag habe ich solche Wachträume. Visionen von Freiheit, Flucht und Rettung. Wenn ich über Fiona wache, während sie schläft oder es versucht, und wenn ich meiner dämonischen Tante zuhöre, die wie eine Kakerlake durch die Küche wuselt oder wie einer der Obdachlosen, die früher auf der Suche nach Speiseresten oft unsere Mülltonnen durchwühlten. Aus irgendeinem Grund bekomme ich bei der Vorstellung Heimweh.
Aber meistens steigt hinter meinen geschlossenen Lidern nur ein Bild auf: Tomo
Und dann träume ich davon, ihn noch einmal zu töten.
XVII.
An einem der letzten Tage, an denen ich Jim lebend gesehen habe, half er gerade zwei mit Einkäufen schwer bepackten Mädchen über die Straße.
Ganz lässig hielt er beide sanft am Ellbogen und nickte den Autofahrern beim Überqueren der Fahrbahn freundlich zu. Er trug ein altes Hawaiihemd von Harold, und die grüne Seide mit den pinkfarbenen Ananas leuchtete in der Sonne. Ich gebe es nur ungern zu, aber es stand ihm hervorragend.
Ich fuhr auf dem Fahrrad den Hügel hinunter und wollte Vorräte für Aoife kaufen, die sich immer noch weigerte, ihr Haus zu verlassen. Vor fast einer Woche hatte der verdammte Hurensohn versucht, uns alle zum Schweigen zu bringen, und jetzt fuhr ich ihn und die beiden Mädels fast über den Haufen und trat erst im allerletzten Moment auf die Bremse. Jim wich meinem Vorderreifen mit einer tänzelnden Bewegung aus, und die beiden Mädchen lachten, als er noch ein paar Extratanzschritte draufsetzte. Er legte die Hände um meine Lenkstange und rüttelte spielerisch daran. Das Messer meiner Schwester lag immer noch in meiner Tasche, nur ein paar Zentimeter weit weg, und ich schwöre bei Gott, am liebsten hätte ich es auf der Stelle in seine Brust gerammt.
Und dann lächelte er, ganz normal und ohne zu flirten. Und gewährte mir nur einen kurzen Blick auf das, was unter seiner sonnengebräunten, glatten Haut lauerte.
Falls ich vor diesem Augenblick noch mit dem Gedanken gehadert hatte, seine Hautfarbe dauerhaft in ein lebloses Grau zu verwandeln, hatten sie sich in Luft aufgelöst, als Jim seinen Weg zum Parkplatz beim Hafen fortsetzte. Er verdiente den Tod noch mehr als Judas Ischariot. Aber um ihn in Sicherheit zu wiegen, verhielt ich mich genauso, wie ich mich jedem geilen Arschloch in dieser Stadt gegenüber verhalte, wenn ich ihm das Gefühl geben will, er sei ein ganzer Kerl: Ich legte den Kopf schief, als sei ich geschmeichelt oder beeindruckt, und zeigte ihm meine Beißerchen. Und als ich vom Rad stieg und in den Supermarkt ging, spürte ich, dass sein Blick an meinem Hintern klebte. Es ist beinahe deprimierend, wie leicht sich Männer einwickeln lassen, sogar so gerissene Exemplare wie unser jetzt ortsansässiger Märchenerzähler hier. Und vielleicht, lieber Leser, fragst du dich auch, warum ich mir überhaupt die Mühe machte. Vertrau mir, denn ich hatte bereits einen Plan geschmiedet, wie Aoifes Steakmesser schon bald
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