Darm mit Charme: Alles über ein unterschätztes Organ (German Edition)
als wichtiges Signalmolekül. Verändert man die Wirkungen hier, könnten also auch ganz andere Meldungen an das Gehirn abgeschickt werden. Das wäre vor allem dann interessant, wenn Menschen auf einmal von starken Depressionen heimgesucht werden, obwohl ihr Leben an sich ganz in Ordnung ist. Vielleicht muss nur ihr Bauch auf die Couch – und der Kopf ist gar nicht schuld daran?
Jeder, der unter ängstlichen oder depressiven Stimmungen leidet, sollte sich daran erinnern, dass auch ein gebeutelter Bauch ungute Gefühle auslösen kann. Manchmal völlig zu Recht – sei es nach zu viel Stress oder wegen einer unentdeckten Nahrungsmittelunverträglichkeit. Wir sollten die Schuld nicht nur in unserem Gehirn oder bei Ereignissen in unserem Leben suchen, denn … wir sind mehr als das.
Wo das Ich entsteht
Grummelige Stimmungen, Freude, Unsicherheit, Wohlbefinden oder Sorgen kommen nicht nur isoliert aus dem Schädel. Wir sind Menschen mit Armen und Beinen, Geschlechtsorganen, Herz, Lungen und Darm. Die Verkopfung unserer Wissenschaft hat uns lange blind dafür gemacht, dass auch unser Ich mehr als das Gehirn ist. Die Forschung am Darm hat in letzter Zeit einiges dazu beigetragen, den Spruch »Ich denke, also bin ich« vorsichtig zu hinterfragen.
Einer der interessantesten Hirnbereiche, zu denen Informationen aus dem Darm gelangen können, ist die Insula. Die Insula ist das Forschungsgebiet eines der genialsten Köpfe unserer Zeit: Bud Craig. Er hat über zwanzig Jahre mit einer schier unmenschlichen Geduld Nerven eingefärbt und ihre Verläufe ins Hirn verfolgt. Irgendwann kam er aus seinem Labor und hielt einen einstündigen Vortrag über folgende Hypothese: Die Insula ist der Ort, an dem unser Ich entsteht.
Hier der erste Teil: Die Insula bekommt Gefühlsinformationen aus dem gesamten Körper. Jede Information ist wie ein Pixel – die Insula setzt aus vielen Pixeln ein Bild zusammen. Dieses Bild ist wichtig, denn es ergibt eine Landkarte der Gefühle. Wenn wir also gerade auf einem Stuhl sitzen, merken wir die plattgedrückte Popohaut, stellen vielleicht fest, dass uns kalt ist oder wir Hunger haben. All das zusammen ergibt einen hungrigen, frierenden Menschen, der auf einem harten Stuhl sitzt. Das Gesamtbild dieser Gefühle finden wir vielleicht nicht fabelhaft, aber auch nicht furchtbar, eher so lala.
Teil zwei: Die Aufgabe unseres Gehirns ist laut Daniel Wolpert Bewegung – egal, ob man als Seescheide einen schönen Unterwasserfelsen sucht oder als Mensch ein möglichst gutes Leben. Bewegungen haben die Absicht, etwas zu bewirken. Mit der Karte der Insula kann das Gehirn sinnvolle Bewegungen planen. Wenn das Ich fröstelnd und hungrig herumsitzt, ist das eine gute Motivation für andere Hirnbereiche, etwas daran zu ändern. Man kann anfangen zu zittern oder aufstehen und zum Kühlschrank gehen. Eines der höchsten Ziele unserer Bewegungen ist es, uns immer wieder zu einem gesunden Gleichgewicht zu bewegen – sei es von kalt zu warm, von unglücklich zu glücklich oder von müde zu wach.
Dritter Teil: Auch das Gehirn ist nur ein Organ. Wenn die Insula also ein Bild vom Körper erstellt, schließt das unser Oberstübchen mit ein. Hier gibt es ein paar beachtenswerte Einrichtungen wie Bereiche für soziales Mitgefühl, Moral und Logik. Soziale Hirnbereiche mögen es vielleicht nicht, wenn man Streit mit dem Partner hat, logische Bereiche verzweifeln an einem schweren Rätsel. Um das »Ich«-Bild der Insula sinnvoll zu erstellen, fließen vermutlich auch Wahrnehmungen der Umwelt oder Erfahrungen aus der Vergangenheit mit ein. Wir merken dann nicht nur Kälte, sondern können gleich in einem Kontext fühlen: »Komisch, dieses Kältegefühl. Ich bin doch in einem voll beheizten Raum. Hm. Vielleicht werde ich krank?« Oder auch: »Okay, vielleicht sollte ich bei diesen Temperaturen nicht mehr nackt im Wintergarten herumspringen.« Wir können auf diese Art sehr viel komplexer auf das Erstgefühl »Kälte« reagieren als andere Tiere.
Je mehr Informationen wir verbinden, desto klügere Bewegungen können wir machen. Vermutlich gibt es hier sogar eine Hierarchie der Organe. Was besonders wichtig für unser gesundes Gleichgewicht ist, bekommt dann ein größeres Mitspracherecht in der Insula. Gehirn und Darm hätten hier durch ihre vielseitigen Qualifikationen schon mal gute Plätze sicher – wenn nicht sogar die besten.
Die Insula kreiert also ein kleines Bild von unserem gesamten fühlenden Körper. Dieses Bild
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