Darm mit Charme: Alles über ein unterschätztes Organ (German Edition)
andere Bakterien als zu entspannten Zeiten. Stress verändert sozusagen das Wetter im Bauch. Herbe Gesellen, die mit den Turbulenzen wunderbar klarkommen, vermehren sich dann besonders erfolgreich – sie verbreiten nach Feierabend aber nicht unbedingt die beste Stimmung. Damit wären wir nicht einfach nur Opfer unserer Darmbakterien und ihrer Wirkung auf unser Gemüt, sondern praktisch eigene Gärtner der Welt im Bauch. Das hieße außerdem, dass unser Darm imstande ist, uns auch über die akute Stressphase hinaus die ungute Stimmung spüren zu lassen.
Die Gefühle von unten, und besonders solche mit üblem Nachgeschmack, bringen das Hirn dazu, das nächste Mal sehr genau zu überlegen, ob es einen Vortrag vor dem Büro halten will, das viel zu scharfe Chili trotzdem isst oder vielleicht lieber nicht. So könnte auch die Rolle des Darms bei »Bauchentscheidungen« sein: Seine Gefühle in einer ähnlichen Situation werden gespeichert und notfalls zu Rate gezogen. Wenn auch gute Lektionen so verstärkt werden könnten, dann ginge Liebe tatsächlich durch den Magen – und zwar schnurstracks zum Darm.
Dass unser Bauch nicht nur bei Gefühlen oder bei gewissen (Bauch-)Entscheidungen mitmischen könnte, sondern eventuell auch unser Verhalten beeinflusst, ist eine interessante Hypothese, an deren Untermauerung verschiedene Wissenschaftler arbeiten. Das Team um Stephen Collins ging mit einem Experiment sehr weit. Probanden waren Mäuse aus zwei verschiedenen Stämmen, deren Verhalten genau untersucht ist. Tiere aus dem BALB /c-Stamm sind ängstlicher und handeln schüchterner als Artgenossen aus dem NIH-SWISS -Stamm, die erkundungsfreudiger und mutiger sind. Die Wissenschaftler gaben den Tieren einen Mix aus drei verschiedenen Antibiotika, die nur im Darm wirken, und löschten dort jegliche Bakterienlandschaft aus. Im Anschluss flößten sie den Tieren typische Darmbakterien des jeweils anderen Stammes ein. In Verhaltenstests waren die Rollen auf einmal vertauscht – die BALB /c-Mäuse wurden mutiger, die NIH-SWISS -Mäuse ängstlicher. Ein Beleg dafür, dass der Darm zumindest das Verhalten von Mäusen beeinflussen kann. Auf den Menschen übertragen lässt sich das noch nicht. Hierzu fehlt uns noch sehr viel Wissen über die verschiedenen Bakterien, das Darmhirn und die Darm-Hirn-Achse.
Bis dahin können wir die Kenntnisse nutzen, die wir bereits gesammelt haben. Das fängt bei kleinen Dingen an, wie unseren täglichen Mahlzeiten, und heißt zum Beispiel auch: keine Belastung, keine Hektik beim Essen. Mahlzeiten sollten stressfreie Zonen sein ohne Schimpfen, ohne Sätze wie »Du bleibst so lange am Tisch sitzen, bis du aufgegessen hast«, ohne Hin- und Hergezappe am Fernseher. Das gilt vor allem für kleine Kinder, bei denen sich das Darmhirn parallel mit dem Kopfhirn entwickelt, aber eben auch noch für Erwachsene – je früher man damit anfängt, desto besser. Jeglicher Stress aktiviert Nerven, die unsere Verdauung hemmen – dadurch holen wir nicht nur weniger Energie aus dem Essen, sondern brauchen dafür auch länger und belasten unseren Darm.
Wir können mit diesem Wissen spielen und herumexperimentieren. Es gibt Reisekaugummis und Mittel gegen Übelkeit, die Nerven im Darm betäuben. Ängstliche Gefühle verschwinden dann oft gleichzeitig mit der Übelkeit. Wenn unerklärliche Grummellaunen oder Angst aber tatsächlich auch sonst (ohne Übelkeit) aus dem Darm kommen können, könnte man diese dann etwa auch mit solchen Mitteln loswerden? Sozusagen, indem man einen besorgten Darm für kurze Zeit betäubt? Alkohol erreicht nicht zuerst die Nerven im Kopf, sondern die im Darm – wie viel von der Entspannung durch das »eine Glas Wein« am Abend kommt von einem ruhiggestellten Hirn im Bauch? Welche Bakterien sind in den verschiedenen Joghurtsorten im Supermarkt? Tut mir ein Lactobacillus reuteri besser als ein Bifidobacterium animalis ? Ein Forscherteam aus China konnte mittlerweile sogar im Labor zeigen, dass Lactobacillus reuteri imstande ist, Schmerzsensoren im Darm zu hemmen.
Lactobacillus plantarum und Bifidobacterium infantis können mittlerweile schon zur Schmerzbehandlung beim Reizdarm-Syndrom empfohlen werden. Wer heute unter einer niedrigen Schmerzschwelle des Darms leidet, nimmt oft einfach Mittelchen gegen Durchfall oder gegen Verstopfungen oder krampflösende Substanzen. Damit werden Auslöser gemildert, das eigentliche Problem wird aber nicht beseitigt. Wer auch durch das Weglassen eventuell
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