Darm mit Charme: Alles über ein unterschätztes Organ (German Edition)
unverträglicher Lebensmittel oder durch den Wiederaufbau der Darmflora keine Besserung erfährt, muss das Übel am Schopf packen: an den Nervenschwellen. Es gibt bislang wenige Maßnahmen, die sich hierbei in Studien als hilfreich erwiesen haben – die Hypnotherapie ist eine solche.
Wirklich gute Psychotherapien funktionieren wie Krankengymnastik für unsere Nerven. Sie lockern Verspannungen und bringen uns gesunde Bewegungsalternativen bei – auf neuronaler Ebene. Weil Hirnnerven kompliziertere Gesellen sind als Muskeln, muss man als Trainer auch abgefahrene Übungen draufhaben. Hypnotherapeuten arbeiten oft mit Gedankenreisen oder Vorstellungskraft. Damit sollen Schmerzsignale abgemildert und die Wahrnehmung bestimmter Reize umgearbeitet werden. Wie beim Training von Muskeln können auch bestimmte Nerven stärker werden, wenn man sie öfter benutzt. Man wird dabei nicht hypnotisiert wie im Fernsehen. Das würde sogar gegen die Regeln verstoßen, denn bei dieser Therapieform soll der Patient selbst die Kontrolle behalten. Bei der Suche nach einem Therapeuten sollte man allerdings darauf achten, einen seriösen Anbieter zu finden. Eine gute Anlaufstelle ist hier das Milton-Erickson-Institut in Heidelberg, das ausgebildete Therapeuten vermittelt.
Bei Reizdarm-Patienten hat die Hypnotherapie gute Erfolge gebracht. Viele benötigen deutlich weniger Medikamente, einige sogar gar keine mehr. Vor allem bei betroffenen Kindern ist diese Therapieform mit einer Reduktion der Schmerzen um etwa 90 Prozent weitaus erfolgreicher als Medikamente, die es im Durchschnitt nur auf 40 Prozent schaffen. Es gibt sogar Krankenhäuser, in denen spezifische, bauchbezogene Konzepte angeboten werden, wie im Klinikum Saarbrücken.
Wer neben einer Darmkrankheit auch sehr stark unter Angstzuständen und Depressionen leidet, bekommt vom Arzt oft die Empfehlung, Antidepressiva zu nehmen. Selten wird aber erklärt, warum. Das hat einen einfachen Grund: Kein Arzt oder Wissenschaftler weiß das. Erst als man in Studien feststellte, dass diese Medikamente stimmungsaufhellende Wirkung haben, fing man an, die Mechanismen dahinter zu suchen. Eine klare Antwort haben wir bis heute nicht. Über Jahrzehnte wurde vermutet, dass der Effekt durch die Verstärkung des »Glückshormons« Serotonin zustande kommt. Die neuere Depressionsforschung nimmt auch andere Beobachtungen unter die Lupe: Unsere Nerven könnten durch die Einnahme wieder plastisch werden.
Plastizität beschreibt bei Nerven die Fähigkeit, sich zu ändern. Pubertät ist für ein heranwachsendes Gehirn deshalb so verwirrend, weil die Nerven unglaublich plastisch sind – vieles ist nicht festgelegt, alles kann, nichts muss, es gibt eine Menge Umhergefunke. Bis etwa zum 25. Lebensjahr schließt man diesen Prozess ab. Jetzt reagieren bestimmte Nerven nach eingeübten Mustern. Was sich bewährt hat, behält man bei, was nicht so toll war, eher nicht. So verschwinden nicht nur unerklärliche Wut- und Lachanfälle, sondern auch die Poster an der Zimmerwand. Es ist dann schwieriger, sich ruckartig zu verändern, man ist aber eben auch auf angenehmere Weise stabil. Allerdings können sich auch unangenehme Denkmuster festsetzen wie »Ich bin nichts wert« oder »Alles, was ich tue, scheitert«, auch das nervöse Hochgefunke eines besorgten Darms könnte sich so stabil im Kopf verankern. Wenn Antidepressiva die Plastizität erhöhen, könnten solche Muster wieder aufgelockert werden. Das ergibt dann am meisten Sinn, wenn eine gute Psychotherapie begleitend stattfindet. Sie kann die Gefahr verringern, wieder in den alten Trott zu verfallen.
Die Nebenwirkungen marktüblicher Antidepressiva wie beispielsweise Prozac erzählen uns außerdem etwas Wichtiges über das »Glückshormon« Serotonin. Jeder Vierte erlebt typische Effekte wie Übelkeit, eine Phase mit Durchfall und nach längerer Einnahme Verstopfungen. Das liegt daran, dass unser Darmhirn genau die gleichen Nervenrezeptoren besitzt wie das Kopfhirn. Antidepressiva behandeln also immer automatisch beide. Der amerikanische Forscher Dr. Michael Gershon geht noch einen Gedankenschritt weiter. Er fragt sich, ob bei manchen Menschen auch solche Antidepressiva anschlagen könnten, die nur am Darm wirken und gar nicht mehr in das Gehirn gelangen?
Eine völlig abwegige Idee ist das nicht – 95 Prozent unseres körpereigenen Serotonins wird schließlich in Darmzellen produziert. Dort erleichtert es den Nerven die Muskelbewegungen enorm und dient
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