Darm mit Charme: Alles über ein unterschätztes Organ (German Edition)
können wir dann mit unserem komplexen Hirn bereichern. Nach Bud Craig wird etwa alle vierzig Sekunden ein so aufwendiges Bild erstellt. Hintereinander ergeben diese Bilder eine Art Film. Der Film unseres Ichs, unser Leben.
Das Gehirn steuert sicher einen großen Teil dazu bei, aber nicht alles. Es ist keine üble Idee, René Descartes ein wenig zu ergänzen: »Ich fühle, daraufhin denke ich, also bin ich.«
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DIE WELT DER MIKROBEN
Wenn man aus dem Weltall auf die Erde schaut, sieht man uns Menschen nicht. Die Erde erkennt man – sie ist ein runder leuchtender Punkt neben anderen leuchtenden Punkten auf dunklem Hintergrund. Geht man näher heran, sieht man, dass wir Menschen an ganz unterschiedlichen Orten auf der Erde leben. Nachts leuchten unsere Städte als kleine helle Punkte. Manche Völker leben in Gebieten mit großen Städten, andere überall verteilt auf dem Land. Wir leben in kühlen nordischen Gefilden, aber auch im Regenwald oder an den Rändern von Wüsten. Wir sind überall, auch wenn man uns aus dem Weltall nicht sehen kann.
Schaut man sich uns Menschen näher an, stellt man fest, dass jeder von uns wie eine eigene Welt ist. Die Stirn ist eine luftige kleine Wiese, der Ellbogen ein trockenes Ödland, die Augen sind salzige Seen, und der Darm ist der abgefahrenste, riesigste Wald mit den unfassbarsten Kreaturen. So wie wir Menschen den Planeten bewohnen, werden auch wir besiedelt. Unter dem Mikroskop kann man unsere Bewohner – die Bakterien – gut erkennen. Sie sehen dann aus wie kleine leuchtende Punkte vor dunklem Hintergrund.
Jahrhundertelang haben wir uns mit der großen Welt beschäftigt. Wir haben sie vermessen, Pflanzen und Tiere erforscht und über das Leben philosophiert. Wir haben riesige Maschinen gebaut und sind zum Mond geflogen. Wer heute neue Kontinente und Völker entdecken will, muss die kleine Welt erkunden, die sich in uns selbst befindet. Unser Darm ist dabei der faszinierendste Kontinent. Nirgendwo leben so viele Spezies und Familien wie hier. Die Forschung fängt gerade erst an, wirklich loszulegen. Es entsteht eine Art neue »Bubble« – vergleichbar mit der Entschlüsselung unseres Genoms – mit vielen Hoffnungen und neuen Erkenntnissen. Diese Bubble könnte platzen oder Vorbote zu mehr sein.
Erst seit 2007 arbeitet man an einer Bakterienkarte. Dafür werden viele, viele Menschen an allen möglichen Stellen mit Wattestäbchen abgetupft. An drei Stellen im Mund, unter den Achseln, auf der Stirn … Es werden Stuhlproben analysiert und Genitalabstriche ausgewertet. Orte, die bislang als keimfrei galten, stellen sich plötzlich als besiedelt heraus – zum Beispiel die Lunge. Der Darm ist in Sachen Bakterienatlas die absolute Königsdisziplin. Von den Mikrobiota – also der Gesamtheit aller Mikroorganismen, die auf uns herumwuseln – befinden sich 99 Prozent im Darm. Nicht etwa, weil es sonst kaum welche an anderen Stellen gibt, sondern weil es im Darm einfach so unfassbar viele sind.
Der Mensch als Ökosystem
Wir kennen Bakterien als kleine Lebewesen, die aus nur einer Zelle bestehen. Manche leben in kochenden Wasserquellen in Island, andere auf einer kalten Hundeschnauze. Einige brauchen Sauerstoff, um Energie herzustellen, und »atmen« ähnlich wie Menschen. Wieder andere sterben an der frischen Luft; sie beziehen ihre Energie nicht aus Sauerstoff, sondern aus Metallatomen oder Säuren – das kann ziemlich interessant riechen. Fast alles, was an einem Menschen riechbar ist, sind Bakterien. Vom wohligen Hautgeruch einer Person, die man liebt, bis zum Mundgeruch des frivolen Nachbarshunds – all das entsteht durch die emsige Mikrobenwelt auf uns.
Wir schauen sportlichen Athleten gerne beim Surfen zu, denken beim Niesen aber keine Sekunde daran, was für ein unglaubliches Action-Surf-Szenario gerade in unserer Nasenflora abgeht. Wir schwitzen hart beim Sport – aber niemand bemerkt die Freude der Bakterien über den sommerlichen Klimawandel in unseren Turnschuhen. Wir essen klammheimlich ein winziges Stück Torte, denken, keiner hat’s gesehen, und in unserem Bauch brüllt es laut: » TOOOORTEEEE «. Um all die Neuigkeiten aus dem Mikrobenreich eines einzelnen Menschen sachgerecht wiederzugeben, bräuchte es einen großen internationalen Nachrichtendienst. Wenn wir uns also tagsüber langweilen, tun wir das, während auf uns und in uns die spannendsten Dinge passieren.
Langsam wächst das Bewusstsein, dass die allermeisten Bakterien harmlos und sogar
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