Darwin im Faktencheck - moderne Evolutionskritik auf dem Prüfstand
Genvarianten gebildet, die hätten begünstigt werden können. Also musste es eben die einfache Lösung sein und das elegante Schwitzen durch das weniger hoffähige Selbstbepinkeln ersetzt werden. Es gibt halt bis dato nichts Besseres. Entscheidend ist: Es funktioniert – auch ein evolutionärer Erfolg. Aber gerade das macht die Leistung Darwins aus, dass er die Relativität der Selektion erkannt hat. Es geht nicht um die Auslese von Optimalem, sondern um die unterschiedlich guten Durchsetzungschancen zufälliger Merkmalsvarianten. Dieser Mechanismus ist Grundlage der Biodiversität, die Lösungen aller Komplexitäts- und Funktionalitätsgrade beinhaltet.
Elitäres Optimum – Fitness nicht für alle?
Für die Kritiker mit ihrem Selektionsverständnis des „Richter Gnadenlos“ ist der fehlende Perfektionismus ein klares Argument gegen Darwin. Es sei mit dem Evolutionsmodell unvereinbar, dass die Natur einerseits vor Makeln und Unausgereiftem nur so strotze und anderseits perfekte Lösungen nur einer Minderheit vorbehalten blieben, anstatt sich über alle Lebensformen zu verbreiten. Die alles andere als optimalen Landefähigkeiten der Albatrosbruchpiloten würden wohl von der Selektion übersehen. Andererseits bliebe eine so effektive und ökonomische Fortbewegungsweise nur einer Minderheit von Gattungen vorbehalten. Wenn sich Fitness durchsetzt, warum müssen wir uns dann noch mühsam auf zwei Beinen durchs Leben schleppen, anstatt mit formschönen Flügeln ausgestattet ästhetisch durch die Lüfte zu gleiten?
Vermutlich wird es Ihnen, lieber Leser, nach der bisherigen Lektüre nicht schwerfallen, selbst die passenden Antworten zu geben. Der Mangel an perfekten Lösungen belegt die von Darwin hervorgehobene fehlende Rigorosität der Selektion sowie die Kompensationsmöglichkeiten, die dem Organismus einen insgesamt ausreichenden Fitnesszustand verleihen. Als blendende Flieger und erfolgreiche Jäger können die Albatrosse ihre Unzulänglichkeiten beim Landeanflug verkraften und trotz der individuellen Verluste als biologische Familie überleben. Möglicherweise – auch wenn es nach menschlichen Maßstäben einmal mehr gefühllos klingt – sind solche Opfer wichtig für die Regulation der Individuenzahlen. Außerdem spricht nichts dafür, dass die Evolution zu Ende ist. Es bleibt spannend wie eh und je. Wer weiß, vielleicht dürfen sich unsere Ururenkel am Anblick weicher Landungen von mit ausgereiften Stabilisierungssystemen ausgestatteten Albatrossen erfreuen. Warum haben nicht alle Wirbeltiere Flügel? Biodiversität heißt das Zauberwort. Die Vielzahl unterschiedlichster ökologischer Nischen, die Erschließung konträrer Lebensräume, die Parallelexistenz verschiedenster Lösungskonzepte machen das Wesen der Evolution aus ohne jegliche Tendenz, auf den einen omnipotenten Megastar, den optimalen Alleskönner hinzusteuern. Optimierende Produktivität ohne konkrete Zielvorgabe auf allen Ästen des Lebensbaumes, der verzweigt bleiben wird – dies ist das Evolutionsverständnis des Darwinisten. Und noch einmal: Selektion ist keine schöpferische Instanz, kein Gott, auch wenn die Kritiker das immer wieder in den Darwinismus hineininterpretieren. Es handelt sich lediglich um einen Filtermechanismus, der nur das verarbeitet, was von Mutationen und Rekombinationen geliefert wird und unterschiedlichen Qualitäten unterschiedlich guten Durchlass, sprich verschieden gute Aussichten bei der erfolgreichen Lebensbewältigung ermöglicht. Aber dieses Sieb ist kein Schafott oder Ausrottungsmechanismus.
Survival of the survivors: Fitness ist nichts für Hellseher
Dass die Selektion der zufällig besser Angepassten als Triebfeder der Evolution in den Ohren der Darwin-Gegner die Wirkung eines roten Tuches entfaltet, hat uns ja gerade noch einmal beschäftigt. Auch dass eben nicht immer nur der eine Beste überlebt, sondern schon minimale Boni ihre Chance erhalten, schmeckt den Kritikern nicht. Es gibt keine scharfe Grenze für die Anpassungsqualität, die vorliegen muss, damit das Überleben gesichert ist. Daher sind für uns auch keine Vorhersagen möglich. Zu orakeln, diese oder jene neue Eigenschaft werde sich als ausreichend vorteilhaft erweisen, um sich durchzusetzen, wäre reine Spekulation. Wir können Evolution immer nur im Nachhinein beurteilen . Darwins Lehrsatz vom
survival of the fittest
ließe sich auch in
survival of the survivors
umwandeln. Die unmögliche Prognose „fit genug, um zu überleben“ – das
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