Darwinia
jede andere qualmende Grenzstadt aus, eine Ansammlung von Sägewerken, Hotels, Docks und Lagerhäusern. Er erkannte die Silhouette des einzigen berühmten Monuments der Stadt, eine Säule aus südafrikanischem Marmor, errichtet zur Erinnerung an die Verluste von 1912. Das Wunder war nicht eben freundlich zu den Menschen gewesen. Es hatte Fels durch Fels ersetzt, Pflanzen durch fremdere Pflanzen und Tiere durch entfernt ähnliche Geschöpfe – doch von der menschlichen Bevölkerung oder sonst einer höheren Spezies fehlte bis jetzt jede Spur.
Höher als die Gedächtnissäule waren die baggernden und bauenden Eisenkräne in den Hafenanlagen. Dahinter, das Imposanteste von allem, thronte auf dem ursprünglichen Ludgate Hill das Skelett der neuen St. Paul’s Cathedral. Es führte keine Brücke über die Themse, aber es gab Pläne, eine zu bauen; etliche Fähren besorgten den Transfer.
Lily zupfte an seinem Ärmel. »Daddy«, sagte sie feierlich. »Ein Monster.«
»Wie meinst du?«
»Ein Monster! Guck!«
Seine Tochter hatte die Augen aufgerissen und zeigte links vom Bug weg, flussaufwärts.
Als Guilford ihr den Namen des Monsters erklärte, schlug sein Herz schneller: Schlammschlange sagten die Siedler dazu, auch Flussschlange. Caroline umklammerte den anderen Arm, als das Geplapper an Deck versiegte. Die Schlammschlange hob den Kopf über den Bug; sie tat das auf eine verblüffend graziöse Weise – immerhin hatte der Schädel die Form eines stumpfen Keils von der Größe eines Kindersargs und saß auf einem zwanzig Fuß langen Hals. Guilford wusste, die Kreatur war harmlos – friedlich, buchstäblich ein Lotosesser –, aber sie war furchterregend groß.
Unter Wasser hatte sie sich im Schlamm verankert. Die Beine der Schlammschlange waren knochenlose, knorpelige Sporne, mit denen sie sich gegen die Strömung stemmte. Die Haut war ölig weiß, stellenweise algengrün gesprenkelt. Die Kreatur schien fasziniert von der Geschäftigkeit am Ufer. Sie richtete ihre gegenständigen Augen nacheinander auf die Kräne im Hafen, blinzelte und öffnete stumm das Maul. Dann erspähte sie eine treibende Lotosinsel und schöpfte das Grün mit einer einzigen geschickten Bewegung ab und tauchte wieder in die Themse.
Caroline barg den Kopf an Guilfords Schulter. »Gott steh uns bei«, sagte sie leise. »Hier ist die Hölle.«
Lily wollte wissen, ob das stimmte. Guilford versicherte ihr, dass dem nicht so sei; hier sei lediglich London, das neue London in der neuen Welt – obwohl der Vergleich angesichts des feurigen Sonnenuntergangs, des rasselnden Hafens und des Flussmonsters und allem anderen nicht ganz von der Hand zu weisen war.
Stevedores übernahm das Entladen der Fähre. Finch, Sullivan und der Rest der Expedition stiegen beim Imperial ab, dem größten Londoner Hotel. Guilford blickte wehmütig auf die bleigefassten Fenster und die schmiedeeisernen Balkone des Gebäudes, als er mit Caroline und Lily aus dem Hafen fuhr. Sie hatten sich ein Londoner Taxi genommen, im Grunde ein Pferdekarren mit Tuchverdeck und schlechter Federung; sie fuhren zu Carolines Onkel, Jered Pierce. Ihr Gepäck würde morgen früh folgen.
Menschen lärmten durch die dämmrigen Straßen, dazwischen war ein Lampenanzünder unterwegs. Vom legendären englischen Benehmen war nicht viel geblieben, dachte Guilford, wenn denn dieser Mob von Seeleuten und lauten Frauenzimmern überhaupt typisch war für London.
Aber London war schlicht und einfach eine Grenzstadt, seine Bevölkerung eine Auslese der raueren Elemente der Königlichen Flotte. Kohle und Öl mochten knapp sein, aber die Schnapsbuden schienen ein glänzendes Geschäft zu machen.
Lily legte den Kopf auf Guilfords Schoß und schloss die Augen. Caroline war hellwach. Sie nahm Guilfords Hand und drückte sie. »Liam sagt, es wären gute Leute, aber ich hab sie noch nie gesehen.« Sie meinte ihre Tante und ihren Onkel.
»Sie gehören zur Familie, Caroline. Sie sind bestimmt nett.«
Der Pierce-Laden lag in einer hell erleuchteten Marktstraße, wirkte aber so improvisiert und klapprig wie alles in der Stadt. Carolines Onkel Jered stürmte aus der Tür und umarmte seine Nichte, schüttelte Guilford kräftig die Hand, schnappte sich Lily und begutachtete sie wie einen besonders erfreulichen Mehlsack. Dann lud er die drei ins Haus und brachte sie eine Eisentreppe hinauf in die Wohnung über dem Laden. Die Zimmer waren klein und spärlich möbliert, doch ein Holzofen machte es heimelig
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