Das 2. Buch Des Blutes - 2
aber er starrte mit gerunzelter Stirn darauf, als könnte er plötzlich mit RÖntgenaugen sehen. Der Waggon schaukelte und rollte. Der Zug war wieder voll in Fahrt.
Und wieder das Aufschlitzgeräusch.
War’s eine Vergewaltigung?
Mit allenfalls milder voyeuristischer Neugier bewegte er sich den hin- und herschwankenden Waggon entlang Richtung Verbindungstür und hoffte, einen Spalt im Vorhang zu entctek-ken. Seine Augen waren noch immer aufs Fenster geheftet, und seiner Aufmerksamkeit entgingen die Blutspritzer, in die er trat.
Bis…
…er mit dem Absatz ausrutschte. Er sah zu Boden. Sein Magen registrierte das Blut beinah eher als sein Hirn, und der Schinken auf Vollkornbrot kam ihm halbwegs die Speiseröhre hoch und fing sich hinten im Rachen. Blut. Mehrmals schlang er wie in Atemnot die abgestandene Luft in sich hinein und schaute weg - wieder zum Fenster hin.
Sein Kopf sagte: Blut. Nichts würde dies Wort zum Verschwinden bringen.
Höchstens ein oder zwei Meter waren jetzt zwischen ihm und der Tür. Er mußte nachsehen. Blut war an seinem Schuh, und eine dünne Spur lief zum nächsten Waggon, aber er mußte trotzdem nachsehen.
Er mußte.
Er machte noch zwei Schritte auf die Tür zu und suchte sorgfältig den Vorhang ab, er suchte nach einem Fehler im Gewebe: Ein herausgezogenes Fädchen wäre schon genug gewesen. Und - da war ein winziges Loch. Er drückte ein Auge an die Scheibe,
Sein Bewußtsein weigerte sich anzuerkennen, was seine Augen hinter der Tür sahen. Er verwarf das Schauspiel als widernatürlich-absurd, als geträumten Nachtmahr. Sein Verstand sprach ihm die Wirklichkeit ab, aber sein Fleisch war sich ihrer gewiß.
Sein Körper erstarrte vor Entsetzen. Seine Augen konnten mit unbeweglich offenen Lidern die grausige Szene hinter dem Vorhang nicht ausblenden. Er stand an der Tür, während der Zug weiter dahinratterte, während sein Blut aus seinen Gliedmaßen zurückströmte und sein Hirn aus Sauerstoffmangel ins Taumeln geriet. Grelle Lichtflecke schoben sich blitzartig vor seine Vision und löschten die Scheußlichkeit aus.
Dann wurde er ohnmächtig.
Er war bewußtlos, als der Zug in Jay Street ankam. Er war taub für die Ankündigung des Fahrers, daß alle Passagiere, die weiter wollten als bis zu dieser Station, umsteigen müßten. Wenn er sie gehört hätte, dann hätte er ihren Sinn angezweifelt. Es gab überhaupt keinen Zug, der alle Fahrgäste in Jay Street absetzte; die Linie ging über den Aqueduct Race Track und am Kennedy-Airport vorbei bis zur Mott Avenue. Er hätte gefragt, welcher Zug das denn sei. Nur daß er’s bereits wußte. Die Wahrheit hing im nächsten Waggon, Verschanzt hinter eine blutige Kettenpanzerschürze lächelte sie zufrieden vor sich hin.
Das hier war der Mitternachts-Fleischzug.
Es gibt bei einer totenähnlichen Ohnmacht keine Meßlatte für die Zeit. Es konnten Sekunden oder Stunden gewesen sein, die vergingen, ehe Kaufmans Augen wieder aufflackerten und sein Bewußtsein sich auf die neue Lage einpendelte, in der er sich befand.
Er lag jetzt unter einer der Sitzbänke an die vibrierende Waggonwand gepreßt, vor Blicken geschützt. Bislang war das Schicksal auf seiner Seite, dachte er: Irgendwie mußte das Geschaukel des Waggons seinen bewußtlosen Körper außer Sichtweite manövriert haben.
Er dachte an das Grauen in Waggon zwei - und schlang Erbrochenes wieder hinunter. Er war allein. Wo der Schaffner auch sein mochte (vielleicht ermordet), er konnte ihn unmöglich zu Hilfe ru f en. Und der Fahrer ? Lag er tot überm Steuerungssystem? Durchraste der Zug eben jetzt einen unbekannten Tunnel, einen Tunnel ohne eine einzige Station, dank derer man die Strecke hätte identifizieren können, seiner Zerstörung entgegen?
Und wenn’s keinen Zusammenprall gab, bei dem er umkam, dann gab es jedenfalls den Schlächter, der immer noch drauf-loshackte, nur die Dicke einer Tür von Kaufman entfernt.
Da führte kein Weg dran vorbei: Der Name auf der Tür war Tod.
Der Lärm war ohrenbetäubend, besonders wenn man am Boden lag. Kaufmans Zähne schlackerten in ihren Kieferfä-
chern, und sein Gesicht war von der Vibration fühllos-starr; selbst die Schädeldecke tat ihm weh.
Dann spürte er, wie ganz allmählich die Kraft in seine erschöpften Glieder zurückpulste. Vorsichtig streckte er die Finger und ballte sie zur Faust, um die Durchblutung wieder in Gang zu bringen.
Und mit dem Körpergefühl war auch erneut der Brechreiz zur Stelle. Er hatte weiterhin
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