Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das 2. Buch Des Blutes - 2

Das 2. Buch Des Blutes - 2

Titel: Das 2. Buch Des Blutes - 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
rasenden, geistesverwirrten Blutvergießer lugten herüber ins Diesseits: beispiellose Kreaturen, nicht auszusprechende, verbotene Mirakel unserer Gattung, schnatterten und heulten ihr irres Kauderwelsch.
    Jetzt bemerkte sie der Junge über ihr. Sie sah, wie er sich in dem stillen Zimmer leicht umwandte; er begriff, daß die Stimmen, die er hörte, keine Fliegenstimmen, daß die Klagen keine Insektenklagen waren. Plötzlich war ihm klar, daß er in einer winzigen Ecke der Welt gelebt hatte, und daß alles Übrige, die Dritte, Vierte und Fünfte Welt gegen seinen Rücken anbrandeten, voller Freßgier und unwiderruflich. Der Anblick seines Entsetzens teilte sich ihr auch als Geruch und Geschmack mit.
    Ja, sie schmeckte ihn, wie sie es sich immer ersehnt hatte, aber nicht ein Kuß vermählte ihre Sinne, sondern sein wachsendes Entsetzen. Es ergriff von ihr Besitz. Ihr Einfühlungsvermögen war allumfassend. Der angsterfüllte Blick war ihrer so gut wie seiner, ihre ausgedörrten Kehlen schnarrten dasselbe kleine Wort:
    »Bitte!«
    Das das Kind lernt.
    »Bitte!«
    Das Zuwendung und Geschenke bringt.
    »Bitte!«
    Das selbst die Toten, ja doch, selbst die Toten kennen und befolgen müssen.
    Heute würde dergleichen Pardon nicht gegeben, das wußte sie sicher. Diese kummervollen Geister waren auf der Transitstrecke in Verzweiflung gealtert, mußten sie doch die Wunden, mit denen sie gestorben waren, weiter tragen, und die Raserei, die sie zu Schlächtern gemacht hatte. Sie hatten seinen Leichtsinn erduldet und seine Unverfrorenheit, all den albernen Schnickschnack, seine Pfuschereien, die ihr Martyrium zum Spiel heruntermachten. Sie wollten die Wahrheit verkünden.
    Fuller starrte sie aus der Nähe an, und sein Gesicht schwamm jetzt in einem Meer aus pulsierendem orangefarbenem Licht.
    Sie spürte seine Hände auf ihrer Haut. Sie schmeckten nach Essig.
    »Geht es Ihnen nicht gut?« fragte er mit einem Atem wie aus Eisen.
    Sie schüttelte den Kopf.
    Nein, es ging ihr nicht gut, nichts ging gut.
    Mit jeder Sekunde klaffte der Spalt weiter auf: Durch ihn konnte sie einen anderen Himmel sehen, das schieferfarbene Firmament, das finster drohend die Transitstrecke überwölbte und die vordergründige Wirklichkeit des Hauses erdrückte.
    »Bitte«, sagte sie und verdrehte die Augen hinauf zur Decke, deren Substanz sich auflöste.
    Weiter auf. Und noch weiter.
    Die zerbrechliche Welt, in der sie lebte, geriet bis zum Bersten unter Druck. Plötzlich zerbrach sie wie ein Damm, und die schwarzen Fluten strömten herein und überschwemmten das Zimmer.
    Füller wußte, daß irgendwas nicht in Ordnung war (das zeigte sich an der Farbe seiner Lichtaura, an der jähen Angst), aber er begriff nicht, was los war. Sie fühlte, daß ein Schauer über seinen Rücken lief; sie sah, wie sein Gehirn sich im Wirbel drehte.
    »Was geht hier vor?« sagte er. Die rührende Dringlichkeit dieser Frage brachte sie fast zum Lachen.
    Eine Treppe höher im Schreibe-Zimmer zerschellte der Wasserkrug.
    Fuller wandte sich von ihr ab und rannte zur Tür. Aber während er sich dieser näherte, wurde sie von einem Rütteln und Beben geschüttelt, als schlüge die ganze Höllenbrut von der anderen Seite dagegen. Der Türgriff rotierte und rotierte.
    Der Lack warf Blasen. Der Schlüssel erstrahlte in Rotglut.
    Füller wandte sich um. Doktor Florescu verharrte noch immer in dieser absonderlichen Haltung, den Kopf im Nacken, die Augen aufgerissen.
    Er streckte die Hand nach dem Griff aus, aber die Tür öffnete sich, noch ehe er ihn berühren konnte. Der Korridor dahinter war völlig verschwunden. Das vertraute Interieur war der bis zum Horizont reichenden Aussicht auf die Hauptverkehrsader gewichen. Der Anblick tötete Füller auf der Stelle. Dieses Panorama überstieg das Fassungsvermögen seines Bewußtseins - einer solchen Überbelastung, die jeden einzelnen Nerv durchzuckte, war er nicht gewachsen. Sein Herz stand still; ein totaler Umschwung zerstörte die Ordnung seines Organismus; die Blase hielt nichts mehr, das Gedärm hielt nichts mehr, die Glieder erbebten und fielen in sich zusammen. Als er zu Boden sank, begann sein Gesicht Blasen zu werfen wie die Tür, und sein Leichnam wurde durchgerüttelt wie sie. Schon war er tote Materie: für diese Schmach so tauglich wie Holz oder Stahl.
    Irgendwo weiter östlich schloß sich seine Seele dem schmerzensreichen Verkehrsstrom auf seinem Weg zur Kreuzung an, auf der er einen Augenblick zuvor gestorben war.
    Mary

Weitere Kostenlose Bücher