Das 5. Gebot (German Edition)
Panik geraten war?
Vicky blieb am Seeufer stehen, um zu verschnaufen. Der Schlachtensee war größer als die Krumme Lanke. Sie konnte ihn trotz regelmäßigen Trainings nicht einfach so umrunden, aber freute sich darüber, dass sie ihren Umkehrpunkt immer weiter hinausschob.
Ihr Blick fiel auf die gegenüberliegende Uferseite. Von Tag zu Tag war der Wald grüner geworden, jetzt waren die Villen am anderen Ufer fast völlig hinter den uralten Baumkronen verschwunden, die sich im dunklen Wasser spiegelten. Diese Häuser faszinierten sie, weil sie aus so unterschiedlichen Zeiten zu stammen schienen und in teilweise ungewöhnlichen Baustilen errichtet waren. Ein Hanggrundstück am Schlachtensee kann man heutzutage wahrscheinlich gar nicht mehr kaufen, dachte sie, bevor sie umkehrte. So etwas kann man nur erben.
Ein alter Herr mit vollem, weißem Haarschopf blieb neben ihr stehen und stützte sich auf seinen Stock. „Schön, nicht wahr?“, sagte er, während er die Hand über die Augen legte, um sie vor der Sonne zu schützen.
„Wunderschön“, sagte Vicky auf Deutsch.
Während sie bei ihrem obligatorischen Cappuccino auf der unteren Terrasse der Fischerhütte einem Labrador und einem Westie beim Liebesspiel zusah, fasste sie den Entschluss, Zeitungen zu kaufen. Lisa würde ihr beim Lesen helfen.
8. Michael
„Der Boss kommt“, sagte seine Sekretärin und legte auf. Danke für die Vorwarnung, dachte er und war gleichzeitig stocksauer. Sie nannten ihn immer noch den „Boss“, dabei war er hier seit mehr als fünfzehn Jahren der Chef, und nicht sein Onkel. Es war immer das Gleiche, alle standen stramm, der Pförtner tätigte Warnanrufe, und plötzlich hatten es alle eilig, wie zufällig durch die Flure zu laufen. Seine Topmanager entblödeten sich nicht, sich wie Klassenprimusse zu benehmen. Es wunderte ihn, dass sich noch keiner einen Bandscheibenvorfall beim Buckeln geholt hatte. Michael erwischte jedes Mal die kalte Wut. Es war schon schwer genug gewesen, den Alten davon zu überzeugen, dass seine Zeit gekommen war und er ihm die Leitung seiner Firma anvertrauen konnte. Dabei war es gar nicht so, dass Onkel Gerhard ihm den Job nicht zugetraut hätte. Onkel Gerhard vertraute niemandem. Grundsätzlich. Und schon gar nicht seinem eigenen Fleisch und Blut. Was er sogar verstehen konnte. Irgendwie.
Michael stand auf und öffnete den eichengetäfelten Wandschrank, hinter dem sich Onkel Gerhard ein Waschbecken hatte einbauen lassen. Michael ließ kaltes Wasser über seine Hände laufen, um sich ein bisschen zu beruhigen. Gleich würde der Alte ohne Vorwarnung in sein Büro reinplatzen, als ob es immer noch seines wäre. Obwohl seine Sekretärin Frau Zimmer erst zu ihm gekommen war, als der Alte bereits seinen wohlverdienten Ruhestand angetreten hatte, hatte sie so viel Respekt vor dem Alten, dass sie sich nicht traute, ihn, wie alle anderen, darauf hinzuweisen, dass man nicht ohne Anmeldung ins Chefzimmer gelangte. Michael hatte peinlich darauf geachtet, dass seine engsten Mitarbeiter der Nach-Gerhard-Ära entsprangen. Er hatte sie persönlich ausgewählt und angeheuert, in der Hoffnung, dem Firmenkonsortium zwar nicht den Namen, aber zumindest den Geist von Gerhard dem Großen auszutreiben. Eine Illusion, wie er inzwischen festgestellt hatte. Legenden lebten ewig.
Er trocknete sich sorgfältig die Hände ab, während er sich fragte, was der Alte hier heute wollte. Sie waren doch erst vor zwei Tagen zu ihrem obligaten Mittagessen bei Reinhard’s im Kempinski am Kudamm zusammengetroffen. Einmal in der Woche musste er antreten zum Gebet, wie er insgeheim diese Arbeitsessen nannte. Gerhard hatte wie jeden Dienstag Tafelspitz bestellt, von dem er wie immer drei Viertel liegen ließ, während Michael Rapport erstatten musste. Es ärgerte ihn, dass er sich dabei immer noch vorkam wie der kleine Schulbub, der ganz lieb zu Onkel Gerhard sein musste.
„Das ist dein Erbonkel“, hatte seine Mutter immer gesagt. Seine Mutter hatte von ihrem Vater nur einen Pflichtteil geerbt, weil Opa nicht einverstanden war mit der Wahl ihres Ehemanns. Leider war sein Großvater gestorben, bevor Michael das Licht der Welt erblickt hatte. So ganz falsch hatte sein Großvater mit seiner Einschätzung nicht gelegen. Michaels Vater hatte nur knapp drei Jahre gebraucht, um das Erbe seiner Frau zu verspielen, und schon bei dem Pflichtteil handelte es sich um eine erhebliche Summe.
Michael hatte viele Jahre das Gefühl gehabt, um sein
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