Das achte Opfer
kriegst, dann bist du am Samstag auch wieder einigermaßen fit. Überleg’s dir. Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn du …«
»Mal sehen, was sich machen läßt. Aber versprechen kann ich gar nichts.«
»Okay, wir können ja heute nachmittag oder heute abend mal telefonieren.«
Sie standen von der Bank auf und gingen mit langsamen Schritten zum Schulgebäude zurück. Sie folgten einfach dem Strom der anderen Schüler, die sich nach und nach in den einzelnen Klassen verteilten. Die nächsten zwei Stunden würden die Hölle werden. Mathe. Wenn es überhaupt ein Fach gab, das Carla haßte, dann dieses. Nicht, weil sie es nicht kapierte, sie gehörte zu den besten Schülerinnen der Klasse, sondern weil sie einfach nicht begriff, wozu sie das alles lernen sollte. Es gab nur einen einzigen Traum, den sie sich später erfüllen wollte – Schauspielerin. Und das Talent dazu besaß sie, wahrscheinlich hatte sie es von ihrer Mutter geerbt, die bis vor wenigen Jahren nicht nur als Model in vielen Zeitschriften und Magazinen, sondern auch im Fernsehen in zahlreichen Werbespots zu sehen gewesen war. Jetzt hatte sie ihr Engagement zurückgeschraubt, wollte etwas Ruhe in ihr Leben bringen und sich mehr um die Familie kümmern. Aber schon seit sie ein kleines Kind war, wußte Carla, daß sie nichts mehr wollte, als eines Tages auch auf der Bühne und vor der Kamera zu stehen.
Samstag, 18.00 Uhr
Gemeinsam mit Sylvia betrat Carla Mattis Haus, eine geräumige Villa nicht weit von ihrem eigenen Haus entfernt. Sie hatte ihr hübschestes, dunkelblaues Kleid angezogen, sich etwas geschminkt, um dadurch ein wenig älter auszusehen. Sie hatte ihren Eltern gesagt, daß sie nach der Party mit zu Sylvia gehen und auch dort übernachten würde. Sie bräuchten sich also keine Sorgen zu machen.
Außer Matti waren noch ein paar Jungen und Mädchen von der Schule da, und einige Gesichter, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Soweit sie feststellen konnte, war sie die jüngste der Anwesenden, die meisten waren etwa zwischen fünfzehn und zwanzig. Vielleicht sogar ein wenig älter. Einige tranken Bier, andere auch härtere Sachen. Manche rauchten, laute Musik hämmerte aus riesigen Lautsprechern. Man mußte fast schreien, wollte man sich unterhalten. Ein paarmal meinte sie, von Blicken förmlich verfolgt zu werden, aber sie konnte sich auch täuschen. Matti kam kurz zu ihr, wechselte einige belanglose Worte mit ihr. Sie fühlte sich nicht sonderlich wohl in der Umgebung: der Lärm, die vielen fremden Gesichter, der schwer in der Luft hängende, süßliche Geruch. Und doch war sie neugierig, trank eine Cola, beobachtete das Treiben um sich herum.
Zwanzig Uhr. Sie saß immer noch auf ihrem Stuhl, ohne daß sich irgend jemand um sie gekümmert hätte. Selbst Sylvia, ihre beste Freundin, war seit über einer halben Stunde in dem Treiben verschwunden, zuletzt hatte sie sie mit einem bestimmt fünf oder sechs Jahre älteren Jungen die Treppe zum ersten Stock hochgehen sehen. Sie trank eine weitere Cola, als eine ihr unbekannte junge Frau auf sie zukam und sich zu ihr setzte. Carla schätzte sie auf etwa zwanzig, sie war groß, hatte lange, dunkle Haare und ebenso dunkle, große Augen, sie trug ein schwarzes Minikleid, das jede ihrer reichlich vorhandenen Rundungen mehr als betonte. Für einen Moment sah sie Carla direkt an, schließlich sagte sie mit warmer, weicher Stimme: »Ich hab dich noch nie gesehen. Bist du zum ersten Mal hier?«
Carla nickte.
»Na ja, beim ersten Mal ist es noch ein bißchen – komisch, oder? Aber man gewöhnt sich dran. Willst du nicht lieberwas anderes trinken … als diese Cola? Soll ich dir was mixen?«
»Was denn?« fragte Carla mißtrauisch.
»Laß dich einfach überraschen. Es wird dir schmecken, ich garantiere es dir. Und außerdem fühlst du dich danach mit Sicherheit ein bißchen wohler.«
»Ich fühl mich nicht unwohl …«
»Ach komm, das sieht doch jeder, daß dir das alles hier nicht ganz geheuer ist. Ich bin gleich wieder da.« Sie erhob sich, reichte Carla die Hand und fügte hinzu: »Übrigens, ich heiße Anna, und du?«
»Carla.«
»Ein hübscher Name, wirklich. Bis gleich.«
Kaum eine Minute später kehrte Anna zurück, ein Glas in der Hand, das sie Carla hinhielt. »Hier, das ist garantiert besser als Cola. Du mußt es aber auf einen Zug austrinken.«
»Warum?«
»Man muß sich an den Geschmack erst gewöhnen, das ist alles. Es ist wie mit Medizin. Aber ich schwöre dir, es ist
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