Das Alabastergrab (Krimi-Edition)
und sieh zu, dass du herkommst!«, befahl ihm Haderlein. »Wo bist du überhaupt, du Trantüte?«
»Nun, äh, ich bin quasi gewissermaßen schon auf dem Rückweg«, log Lagerfeld, während er versuchte, sich die Plastikwanne mit den Graetzke-Utensilien mit einer Hand unter den Arm zu klemmen.
»Wieso ist denn die Prüfung jetzt schon? Ich dachte, die sollte frühestens morgen stattfinden, und gelernt hab ich doch auch noch nichts!«, pöbelte er, während er umständlich über die Stahlrohre der Platzumrandung kletterte.
»Tja, kleine Planänderung, werter Kollege. Also, beeil dich. Honeypenny hat dich angemeldet – um siebzehn Uhr geht’s los.« Haderlein legte auf.
Lagerfeld wollte sein Handy zuklappen, während er mit der Kiste unter dem Arm auf seinen Honda zusteuerte. Er konnte sich noch kurz über die lauter werdende deutsche Schlagermusik wundern, bevor er des festen Stands beraubt wurde und quer durch die Luft segelte. Während er mit dem Rücken unsanft auf dem Teer aufschlug, sah er über sich in Zeitlupe ein ältliches Fahrrad schweben. Knapp neben ihm krachte ein dröhnender Ghettoblaster auf die Straße, der sofort verstummte, als er in tausend Teile zersprang. Dann spürte er einen dumpfen Schlag auf seinem Körper, und ein ihm wohlbekanntes Gesicht kam auf dem seinen zu liegen.
Bitte nicht, betete Lagerfeld stumm, während er aus dem Augenwinkel sah, wie sich der Inhalt seiner Graetzke-Kiste über den Bahnhofsvorplatz verteilte. Derselbe singende Fanatiker wie zwei Tage zuvor glotzte ihn eine Sekunde lang verständnislos an, bevor auch er begriff. Dann schwollen die Adern an seinem Hals an, und ein unmenschlicher Schrei entrang sich seiner Kehle. Knochige Hände legten sich um Lagerfelds Hals, doch der hatte keine Lust, sich auch nur einen Moment länger als nötig mit diesem Irren aufzuhalten. Mit geübter Hand griff er nach hinten in seinen Gürtel, holte mit leichtem Schwung seine Handschellen hervor und ließ sie um die rechte Hand des Manns schnappen, der schreiend und grapschend auf ihm lag. Mit magischer Wirkung. Sofort verstummte er und blickte verstört auf seine Handfessel, ein Augenblick der Verwirrung, den Lagerfeld eiskalt ausnutzte, um herumzuwirbeln und nun seinerseits auf dem Rücken des Sängers zu liegen zu kommen.
»Ende der Vorstellung!«, fauchte der Kommissar. Er erhob sich und schleppte die laut protestierende Last unter dem Beifall der Umstehenden zum Stahlrohrgeländer, das er gerade erst überstiegen hatte. Mit einem hörbaren Klack schloss sich der andere Teil der Handschellen um das kühle Metall. Dann sprang Lagerfeld flugs einen Schritt zurück, um dem fuchtelnden Arm des Sangesmeisters zu entkommen. Er holte sein Handy hervor und rief Honeypenny an.
»Honeypenny, ich stehe hier an der HUK in Coburg, Bahnhofsplatz, und habe eine Festnahme. Tätlicher Angriff auf einen Polizeibeamten. Sag doch bitte den Kollegen hier, sie möchten ihn abholen und sehr, sehr lange in ein sehr, sehr tiefes, schwarzes Loch wegsperren. Ich wiederhole, Honeypenny: sehr tiefes, schwarzes Loch!« Damit klappte er selbstzufrieden sein Handy zu und begann erneut seine Kiste zu füllen. Es würde knapp werden mit seiner Prüfung, so viel war mal klar.
Seufzend schaute er zu seinem Gefangenen zurück, der sich vergeblich bemühte, die Stahlrohre samt Betonfundament zu bewegen. Das Singen war ihm gründlich vergangen. Die Umstehenden waren reichlich amüsiert und betrachteten zufrieden das vorläufige Ende einer hoffnungsvollen Gesangskarriere in Coburg.
*
Haderlein konzentrierte sich zum wiederholten Mal auf die Rast’schen Zeitungsausschnitte. Er hatte das Gefühl, als ob sie ihm etwas sagen wollten, aber er ihre Sprache nicht verstand. Verdammt, es war zum Wahnsinnigwerden. Der Hauptkommissar fühlte sich wie eine Katze, die ihrem eigenen Schwanz hinterherlief. Dann fasste er einen Entschluss. Bevor er hier hinter seinem Schreibtisch kauerte und Löcher in sein Gehirn dachte, war es definitiv besser, sich mit jemandem zu unterhalten. Immerhin mussten sowieso noch Lücken in der Befragungsliste gefüllt werden. Entschlossen stand er auf.
»Wo wollen Sie denn jetzt hin?«, fragte Honeypenny erstaunt.
»Ich werde mal die Kirche aufsuchen«, antwortete er nebulös. »Vielleicht habe ich da ja eine Erleuchtung.«
Honeypenny starrte ihn sprachlos an. Franz Haderlein war kein Kirchgänger. Noch nie gewesen.
Als der Ermittler die Klinke greifen wollte, kam ihm Cesar Huppendorfer auf der
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