Das Alabastergrab (Krimi-Edition)
agierte lieber hinter der argumentativen Frontlinie. Sollten doch andere in der Gruppe ihr verbales Stalingrad riskieren.
Schneidereit war keineswegs der beste Schüler am Ottonianum, aber auch nicht der schlechteste, er lernte lediglich mit einem Minimum an Aufwand. Zur CADAS war er gekommen, als er zufällig ins Musikzimmer gestolpert war. Er war geblieben, weil dort etwas Besonderes ablief und ihm das gefiel. Anmerken lassen würde er sich das natürlich nie. Aber wenn Clemens nicht da war, wie heute, gab es nur dasselbe banale Gequatsche wie auch im Schlafsaal. Da las er doch lieber etwas über die Logik der Sterne. Er kratzte sich an seinem dunkelblonden Stoppelkopf, als die Tür aufging und Clemens Martin hereinkam.
Alle schauten ihn an, nur Alfred Schneidereit konzentrierte sich weiterhin demonstrativ auf seine Sternbilder.
»Wo warst du denn?«, wollte Peter Nickles wissen.
Doch der Junge antwortete nicht, sondern setzte sich mit ausdrucksloser Miene neben die Tür auf den Boden. Er senkte den Kopf und starrte seine Knie an. Jeder sah, dass er mit seinen Gefühlen zu kämpfen hatte. Mozart lag eine dumme Bemerkung auf der Zunge, doch er schaffte es tatsächlich, sie sich zu verkneifen. Clemens Martin schien gerade dabei zu sein, die Fassung zu verlieren. Niemand von ihnen hatte ihn bisher so erlebt. Seine Finger drückten dunkle Dellen in den ledernen Einband seines Tagebuchs, seine Knöchel waren vor Anstrengung ganz weiß. Als er aufschaute, konnte jeder sehen, dass sich in seinen Augen Tränen angesammelt hatten.
»Mensch, Clemens, jetzt sag halt, was los ist!«, flehte ihn Emil Büttner an. Er war der Kleinste und der Ängstlichste in der CADAS . Sogar noch ängstlicher als Peter Nickles.
Der Angesprochene zog ein braun kariertes Stofftaschentuch heraus und schnäuzte sich leise. Dann steckte er es wieder in seine schwarze Stoffhose und legte sein Tagebuch neben sich auf den Boden. »Der Regens weiß von der CADAS «, erklärte er leise.
»Scheiße«, erklang es fast gleichzeitig aus allen Ecken.
»Na endlich!«, fauchte Mozart. »Endlich passiert hier mal was!«
»Ach was, gar nichts passiert«, sagte Clemens kaum hörbar und griff wieder nach seinem Tagebuch.
»Was soll das heißen?«, fragte jetzt Alfred Schneidereit, der tatsächlich seinen Astrologieschmöker weggelegt hatte.
»Das heißt, dass der Regens die CADAS dulden wird. Ob er will oder nicht«, antwortete Clemens und hob den Kopf. Ein Ruck ging durch die Gruppe. Widerspruch gegen die Obrigkeit? Von Clemens? Allgemeine Diskussion erhob sich.
»Was? Wie denn das?«, fragte Mozart neugierig.
»Ganz einfach. Wir werden im Geheimen weitermachen. Der Regens hat kein Recht, uns unsere Versammlungen zu verbieten«, verkündete Clemens ungewohnt trotzig.
Doch er konnte seinen Gedankengang nicht weiter ausführen, weil die drei noch fehlenden Mitglieder der CADAS eintraten.
»He, Leute, in fünf Minuten gibt’s Abendessen!«, rief der Größte der drei, Pankraz Peulendorfer, Sohn eines Brauereibesitzers aus Kulmbach. Dann sah er Clemens am Boden sitzen. »Na, Clemens, auch wieder mal da?«
Doch der schaute nur kurz Peter Nickles an, erhob sich wortlos und ging an ihnen vorbei in Richtung Speisesaal. Peter folgte ihm wie ein Hund.
»Was hat er denn, der Clemens?«, wollte Pankraz von Alfred Schneidereit wissen. »Hab ich was Falsches gesagt?« Er schaute seine beiden Mitankömmlinge fragend an, doch die zuckten nur mit den Schultern, und Alfred griff sich im Aufstehen sein Buch.
»Frag ihn selbst, ich geh jetzt jedenfalls zum Essen«, meinte er. Und mit ihm erhoben sich sieben weitere Schüler des Ottonianums, die auf dem Weg zum Speisesaal einiges zu bereden hatten.
*
Nikolai stand auf der obersten Treppenstufe vor Rasts versiegelter Wohnung. Mit einigen wenigen Handgriffen durchtrennte Igor das geklebte Siegel der Polizei und öffnete die massive Eichentür. Routiniert und ohne Eile durchquerten sie die Wohnung und zogen die Vorhänge zu.
»Dawai« , flüsterte Nikolai Igor zu, dann begannen sie die ordentlichste aller Wohnungen gründlich auseinanderzunehmen.
*
Haderlein und Lagerfeld saßen an der breiteren Seite des Verhörtisches. Ihnen gegenüber hatten Scheidmantel plus Freundin sowie Helmreich Platz genommen. Der Hauptkommissar schaltete das Aufnahmegerät ein und diktierte die Uhrzeit sowie die Namen der Anwesenden. Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück.
»Na, da bin ich aber jetzt gespannt, Joe«, lächelte er
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