Das Alabastergrab (Krimi-Edition)
Kollegen letztendlich doch gegen dreiundzwanzig Uhr nach Hause geschickt, damit sie für den nächsten Tag noch etwas Schlaf bekämen. Für alle Fälle hütete eine Notbesetzung die Dienststelle. Konnte ja durchaus sein, dass um Mitternacht noch eine Leiche vom Himmel fiel.
Morgen früh um sieben Uhr hatten alle wieder frisch und munter anzutreten. Jetzt blieb nur noch eins zu tun, Fidibus musste die Presse ruhigstellen, sonst würden sie hier alle in den nächsten vierundzwanzig Stunden von der Journaille gefressen. Mit Haut und Haaren.
»Haderlein, wo bleiben Sie denn?«, herrschte er seinen Kriminalhauptkommissar an. »Kommen Sie endlich, wir müssen immerhin die wenigen Fakten, die wir haben, gut verkaufen. Haderlein, was soll das denn jetzt? Also wirklich.«
Der Ermittler war gerade mit seiner Tasche um die Ecke gebogen. Auf dem Arm trug er Riemenschneider, die ihn glückselig anlächelte. Endlich war ihr Herr und Meister wieder für sie da. Wurde aber auch Zeit, schließlich hatte sie schon lange kein Bier mehr bekommen.
»Haderlein, Sie wollen doch wohl nicht mit Ihrem Ferkel auf dem Arm vor die versammelten bundesdeutschen Medien treten?«, fragte Fidibus ungläubig.
»Na ja, die Alternativen sind relativ beschränkt, Chef«, verteidigte sich der Hauptkommissar. »Alleine zurücklassen kann ich Riemenschneider hier jedenfalls nicht, da hätte sie zu viel Angst und ich ein schlechtes Gewissen. Honeypenny hat schon Feierabend und konnte Riemenschneider leider nicht mitnehmen, weil sie ihrem Mann beim Honigschleudern helfen musste. Der will nicht, dass das Ferkel dabei ist, weil er Angst hat, dass sie sich nicht beherrschen kann und den ganzen frischen Honig wegfrisst. Ganz unrecht hat der Mann da nicht, Sie wissen ja, was Riemenschneider für eine Süßmäulin ist …« Er hatte den Gesichtsausdruck eines Mannes ohne Wahlmöglichkeit aufgesetzt, den er sich einmal von Franco Nero in einem Western abgeschaut hatte. Wie er so dastand und seinen fassungslosen Chef fixierte, hätte er ihm auch genauso gut »Dieses Büro ist zu klein für uns beide!« vor die Füße geworfen haben können.
»Haderlein, bitte«, flehte ihn Fidibus an. »Da draußen schaut uns die ganze Bundesrepublik direkt ins Gesicht. Und Sie wollen mit einem Ferkel auf dem Arm die Pressekonferenz zu einem Mordfall abhalten? Ganz Deutschland wird über die Bamberger Kriminalpolizei herfallen, sie lächerlich machen.«
»Chef, jetzt mal ganz im Ernst«, widersprach Haderlein, »Sie haben doch selbst erlebt, wie die Meute da draußen drauf ist. Die sind doch genauso am Ende wie wir, die stehen sich doch schon seit heute früh die Beine in den Bauch. Vielleicht ist Riemenschneider genau das Überraschungsmoment, das die heute noch brauchen. Die werden nicht viel an Informationen von uns kriegen, weil wir keine haben, die wir ihnen geben können oder dürfen. Dafür bekommen sie Riemenschneider.«
Fidibus schaute zweifelnd zwischen Haderlein und dem kleinen Ferkel hin und her. »Sie meinen, sie könnte ein Ablenkungsmanöver sein, ein Doppeltrick?«
»Ganz genau, Chef. Das wird schon funktionieren. Und wenn nicht, mein Gott, Riemenschneider ist doch ein Überbleibsel aus einem Einsatz der Bamberger Polizei.« Haderlein grinste selbstzufrieden.
Schlagartig kehrte ein optimistischer Ausdruck auf das Gesicht von Fidibus zurück. »Ja, natürlich, Haderlein. Eine hervorragende Idee, so könnte das funktionieren. Wir werden einfach sagen, Riemenschneider sei die Hauptperson in einem Kronschutzzeugenprozess!« So schnell, wie sich der Dienststellenleiter jetzt auf den Weg zu den Journalisten machte, konnte Haderlein ihm kaum folgen.
*
Keuchend richtete Nikolai sich auf und schaute sich in Rasts Arbeitszimmer um. Überall herrschte jetzt Unordnung und Chaos. Die Bretter des Bücherregals, das einstmals wie mit der Wasserwaage eingeräumt gewesen war, lag zerbrochen kreuz und quer auf den zerfledderten Büchern, die Nikolai eins nach dem anderen ausgeräumt und auf den Boden geworfen hatte. Alle Schubladen waren herausgezogen worden und ebenfalls auf dem Teppich gelandet. Den Schreibtisch und die Wände hatte er bereits nach Hohlräumen abgeklopft, aber nichts gefunden, was als Versteck hätte dienen können. Igor trat ins Zimmer. Er musste seine kurzen Beine ziemlich anheben, um über die Bücher zu steigen. In der rechten Hand hielt er ein Messer, in der linken eine aufgeschlitzte Kissenhülle, aus der die Daunen flogen, als er sie achtlos in
Weitere Kostenlose Bücher