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Das Alabastergrab

Titel: Das Alabastergrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Vorndran
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sein Verzweiflungsgrad am Rechtsanschlag.
    »Und nur noch dringende Sachen heute, bitte. Ich geh in mein Büro
und werde heute keine Beine mehr krumm machen«, faselte er konfus. Dann warf er
noch einen gehetzten Blick in Richtung Kopierer, ging vorsichtig rückwärts in
sein Glashaus, schloss die Tür, und man konnte hören, wie sich der Schlüssel im
Schloss drehte.
    *
    Der gemeine Flussregenpfeifer ist ein scheues Tier, welches seine
kleinen, gefleckten Eier auf die Kiesbänke deutscher Flüsse legt. So lernt es
der Schüler, schaut sich ein Bild in einem bunten Lehrbuch an und hat alles
siebenunddreißig Sekunden später wieder vergessen. Um diesem Effekt der
jugendlichen Demenz zu begegnen, war der Flussregenpfeifer auf den
Hinweistafeln an den Ein- und Ausstiegsstellen am Main nicht nur buntfarbig
abgebildet, sondern auch ausführlich beschrieben. Spaziergänger konnten
nachlesen, dass die Eier des Vogels sich farblich dem Kies anpassen, auf den
sie von ihrer fürsorglichen Mutter gelegt werden. Anschließend wird das Ei
eifrigst bebrütet – allerdings nur bis zur nächsten Störung. Denn der gemeine
Flussregenpfeifer neigt zu Ängstlichkeit und Hektik. Spätestens nach der
dritten Belästigung durch Angler, Hunde oder Badegäste sucht er das Weite und eine
andere Kiesbank, oder er vergisst das Brüten ganz und gar. Er ist eben ziemlich
schnell eingeschnappt, der Flussregenpfeifer. So viel zur ornithologischen
Theorie.
    Der oberfränkische Pfeifer hingegen ist aus einem anderen Holz
geschnitzt. Er zeichnet sich durch eine gewisse Zähigkeit aus, die ihn
befähigt, auch jugendliche Abiturfeiern mit Saufgelage am Fluss relativ
unbeschadet zu überstehen. Ein solch widerstandsfähiges Exemplar weiblichen
Geschlechts hatte sich am Main nahe einer großen Erle niedergelassen und seit
Längerem zu brüten begonnen. In drei wunderbaren Eiern wuchs zartes Vogelleben
heran. Zwar waren auch hier wie überall Angler zugegen, aber darauf konnte sich
das Weibchen einstellen. Alles war noch im grünen Bereich, es gab also keinen
Grund, das Gelege zu verlassen. Aber heute ging irgendwie alles schief. Dieser
fette Angler fluchte schon den ganzen Tag lautstark vor sich hin und
telefonierte dazu auch noch in einer Tour. Und dann war da auch noch dieser
Hund, dieser hässliche, stinkende Köter, und durchstöberte die komplette
Kiesbank.
    Zwei Mal hatte sie bereits flüchten müssen. Beim Letzteren hatte sie
sich zum Wegfliegen genötigt gefühlt. Der Angler hatte Besuch bekommen, die
beiden Männer hatten sich gestritten, und dann war da dieser laute Knall zu
hören gewesen, der sie total erschreckt hatte. Ihr kleines Herz bebte immer
noch.
    Jetzt schien wieder alles ruhig zu sein. Sogar der Angler mit seinem
blöden Hund hatte sich verzogen. Erleichtert flog sie zu ihrem Gelege zurück
und spreizte das Gefieder. Was für eine herrliche Abendsonne. Die würde den
Eiern guttun. Sie spürte, dass sich das Ende der elenden Brüterei näherte. Bald
würden drei flaumige, kleine Flussregenpfeiferbabys schlüpfen, und sie konnte
sich vollends ihren Muttergefühlen hingeben. Sie schaute sich nochmals nach
allen Seiten um, dann ruckelte sie sich auf den Eiern zurecht und stellte sich
auf einen ruhigen Sonntagabend ein.
    Vollkommen unerwartet traf sie plötzlich ein heftiger Schlag auf den
Kopf. Panisch pfeifend kullerte sie auf die Seite. Da lag eine Menschenhand
direkt neben ihrem Gelege! Unglaublich. Und die bewegte sich auch noch. Nein,
falsch, der ganze Arm bewegte sich, es handelte sich hierbei nicht nur um eine
menschliche Extremität, sondern um einen ganzen Menschen! Und sie hatte das
längliche Ding für einen Stamm gehalten! In aller Eile flog sie auf einen Ast
in der Erlenkrone.
    Lagerfeld dröhnte der Kopf. Etliche Sekunden lang musste er sich
zusammensortieren und einnorden, um herauszufinden, wo er sich überhaupt befand.
Ach Gott, ja, Graetzke! Die Erinnerungen waren wieder da.
    Stöhnend setzte er sich auf und befühlte seinen Kopf. Am hinteren
Teil ertastete er eine tennisballgroße Beule. Zu dem Dröhnen in seinem Schädel
gesellte sich nun auch noch ein anhaltendes Pfeifen. Hatte er zu allem Übel
auch noch einen Gehörsturz erlitten? Er blickte sich suchend nach dem Ursprung
des Geräuschs um und erspähte in der Erle einen offensichtlich sangesfreudig
erregten Vogel, der permanent schrille Töne von sich gab. Grauenhaft. Lagerfeld
ertastete seine Sonnenbrille, kam auf die Beine und versuchte, einen Schritt

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