Das Allheilmittel - Valoppi, J: Allheilmittel
Regieraum Informationen und Vorschläge zukommen lassen konnte.
»Ich bin direkt hinter Ihnen«, sagte sie zum Bühnenleiter, während sie den langen Gang ins Studio hinabging.
»Denk trendig!«, rief Kyle ihr nach.
Helene passierte das blinkende, rote »Auf Sendung«-Schild und betrat ein Studio der Größe einer Turnhalle, als ein Bühnenarbeiter eine Applaus-Tafel hochhielt. Ihr Set befand sich in der Mitte – ein vom Boden bis zur Decke von einziehbaren Vorhängen umgebener Kreis. Eine Hälfte des Kreises bestand aus der Bühne und dem Hintergrund, die andere aus Stufen mit Stühlen. Dort saß das Publikum dicht gedrängt.
»Hallo, hallo«, sagte sie über den Applaus hinweg. »Ich danke Ihnen allen fürs Kommen. Es ist eine Freude, Sie heute hier zu haben.«
Sie suchte die Menge nach jungen Gesichtern ab und wusste, dass Kyle im Regieraum gerade dasselbe tat.
»Trendig müssen wir also sein, wie?«, flüsterte sie in das an ihrem Revers befestigte Mikrofon, während ihr Blick über die vorwiegend gepflegten Frauen und Männer mittleren Alters wanderte.
Mit sechsundvierzig Jahren gehörte sie selbst einer Generation an, die sich weigerte, alt zu werden, die Kontrolle aufzugeben oder sich einzugestehen, dass sie den Griff um die Zügel der Zukunft verlor.
Helene nahm auf dem großen, runden, gelben Stuhl auf der Bühne Platz.
»Du hast mir noch gar nicht die guten Neuigkeiten gesagt«, murmelte sie ins Mikrofon.
»Ein paar Kids hatten in der Bronx ein Battle Ultimo -Turnier. Einer der Burschen wurde dabei erschossen.«
»Was ist daran gut?«
»Reichlich schlechte Publicity für das Spiel; vielleicht setzen sie die Sendung ab.«
3
»Falls jemand auf der Welt einen Grund hat, deprimiert zu sein, bin ich es«, sagte Claire laut. »Aber das lasse ich nicht zu. Ich werde bis zum bitteren Ende gegen diese verdammte Krankheit kämpfen.« Sie lehnte sich gegen die Kissen ihres Krankenhausbettes, stellte die Rückenlehne mit der mechanischen Handsteuerung eine Stufe höher und versuchte, in ihre tägliche Meditation einzutauchen. Heute fiel es ihr nicht so leicht.
Claire stellte sich vor, wie ihre Eingeweide von teigigen, braunen Krebszellenklümpchen zerfressen wurden. Dann versuchte sie, sich auszumalen, wie heilendes weißes Licht darüber flutete, sie reinigte und wieder rosig werden ließ. Doch es gelang ihr nicht, das Bild festzuhalten.
Sie musste immerzu an jenen Husten denken; einen einfachen Husten, eine Bronchitis, wie Claire sie davor schon tausende Male gehabt hatte. Wie war es möglich, dass es diesmal so anders sein konnte? Sie hatte es nicht geglaubt, nicht einmal, als Dr. Cohen auf das Bruströntgenbild und die Masse deutete, auch nicht, als er die Computertomografie hervorzog und sagte: »Sie haben außerdem mehrere Tumore in der Leber. Der Krebs befindet sich in einem ziemlich fortgeschrittenen Stadium. An diesem Punkt haben wir nur beschränkte Möglichkeiten.«
Beschränkte Möglichkeiten, schoss es ihr ständig durch den Kopf, zusammen mit tausend anderen Wörtern und Bildern – Bildern ihrer Kindheit, der Kindheit ihres Kindes, der Kindheit ihres Enkels. Sie erinnerte sich an das Gefühl des Stillens, daran, wie der Mund des Babys ihren Nippel wie ein warmer Saugnapf umschloss, der kitzelte und zwickte und nicht loslassen wollte. Damals konnte sie fühlen, wie die Milch durch ihre Drüsen floss, und dann, als wäre die Milch ein Narkotikum, waren die Augen des Säuglings stets zurückgerollt, und das Kind war in den Schlaf geglitten. Manche Frauen hassten es zu stillen. Claire hatte nie so empfunden, sondern das Gefühl der Einheit mit ihrem Kind geliebt. Inzwischen war ihre Tochter ein großer TV-Star und hatte jeden Traum übertroffen, den Claire je für sie gehabt hatte.
Ich kann nicht glauben, dass Gott mich so weit gebracht hat, um mich jetzt fallen zu lassen.
Sie kehrte zu ihrem Mantra zurück, sprach es stumm in ihrem Kopf – Ah-eng, Ah-eng, Ah-eng – bis es für sie nichts anderes mehr gab. Claire meditierte schon lange, seit damals, als sich die Beatles beim Maharishi aufgehalten hatten und transzendentale Meditation ein populärer Pfad zur Erleuchtung gewesen war. Einmal war sie nach Nepal gereist, um einen Eremiten aufzusuchen, der auf einem Berggipfel lebte; den Einheimischen zufolge war er in der Lage gewesen, seinen Körper schweben zu lassen. Als sie beim ihm eingetroffen war, meinte er, Levitation sei kein Zuschauersport.
Hoch in den Anden von Peru besuchte sie
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