Das Allheilmittel - Valoppi, J: Allheilmittel
nehmen.«
»Prima. Danke, Omi. Oh, und bitte sag nichts von dem Spiel ... Ich meine, sie glaubt, ich lerne.«
Abermals klingelte das Telefon, und Claire ergriff den Hörer vom Nachttisch. Justin legte die Bibel neben den Apparat.
»Hallo?« Schlagartig trat ein Leuchten in ihre Augen. »Wann? Morgen? Ich bin hier. Danke. Vielen, vielen Dank.« Atemlos legte sie auf. Justin vermeinte, regelrecht zu spüren, wie ihr Herz in der gebrechlichen Brust hämmerte.
In jenem Augenblick betrat Helene das Zimmer. Als sie Natashas Köpfchen aus dem Rucksack ragen sah, verdrehte sie die Augen und schüttelte ungläubig den Kopf. Doch bevor sie Justin eine Standpauke dafür halten konnte, den Hund mit ins Krankenhaus genommen zu haben, sagte Claire: »Ich habe unglaubliche Neuigkeiten!«
6
»Bist du sicher, dass du nicht mitkommen willst?«, fragte Evelyn Claiborne, während sie einen Diamantohrring an ihrem rechten Ohrläppchen befestigte.
»Ich bin sicher, Liebes.« Archibald Claiborne war dankbar, dass er etwas Zeit alleine in der Wohnung haben würde, um seinem Verstand und Herzen freien Lauf zu lassen, die wichtigste Entscheidung seines Lebens zu treffen. Theoretisch hatte er sie bereits vor vielen Jahren gefällt, allerdings nie gedacht, dass er einst im wahren Leben würde wählen müssen. Nun war die Zeit gekommen, und er betete, der Herausforderung gewachsen zu sein.
Schwärmerisch beobachtete er, wie sich seine Frau, mit der er seit vierzig Jahren verheiratet war, in ihrem langen, schwarzen Kleid anmutig durch das Schlafzimmer bewegte. Bald würde sie zu der seit langem geplanten Pflichtteilnahme an einer Wohltätigkeitsgala aufbrechen. Sie zählte zu den bedeutendsten Ereignissen des Jahres für die Gemeinschaft der Mediziner; alle prominenten Ärzte würden anwesend sein, nicht jedoch Archibald.
»Was wirst du tun?«, rief sie aus dem Badezimmer, wo sie letzte Handgriffe an ihrem Haar vornahm.
»Lesen. Mich entspannen. Vielleicht ein wenig fernsehen.«
»Und du bist sicher, dass es dir gut geht, Liebling?« Sie küsste ihn auf die Wange. »In letzter Zeit warst du nicht ganz du selbst.«
»Mir fehlt nichts, Liebes. Geh du nur und hab einen schönen Abend.«
Archibald begleitete seine Frau zur Tür. Sie drehte sich um und hauchte ihm einen Kuss zu, als der Aufzug eintraf.
Evelyn wusste nichts von seinem Dilemma. Anfangs hatte er es ihr aus Liebe verschwiegen. Er wollte nicht, dass sich ihre zerbrechliche Psyche mit dem Unvermeidlichen auseinandersetzen musste. Später hielt er es in der Hoffnung vor ihr geheim, dass sie es nie erfahren müsste. Sie neigte von Natur aus dazu, sich über alles Sorgen zu machen, was der Situation wenig zuträglich wäre. Nun jedoch würde er ihr die Geschichte erzählen müssen – alles, was er erfahren hatte, das dunkle Geheimnis, das er hütete, das so viele Dinge verändern würde.
Einen Moment lang hoffte er, dass er sich irrte, dass ihn göttliches Geleit durch diese Phase führen würde, doch er fühlte sich nur verlassen. Es gab keinen Ausweg.
Archibald ging in sein Arbeitszimmer und blieb vor den mit antiken medizinischen Büchern gefüllten Regalen stehen. Während er sie betrachtete und auf die Freude wartete, die ihm diese Besitztümer sonst immer bereiteten, hob er die rechte Hand zum Schlüsselbein und betastete die dünne Goldkette um seinen Hals. Nichts stimmte mehr. Er hatte sich nie daran gewöhnt, eine Halskette zu tragen. Ebenso gut hätte es sich um einen Galgenstrick handeln können. Er riss daran, und als die Kette brach, schleuderte er sie zu Boden. Archibald blickte hinab, sah sie jedoch nicht. Es spielte keine Rolle. Nichts spielte noch eine Rolle.
Als es an der Tür klingelte, schreckte er zusammen, obwohl er damit gerechnet hatte. Als er öffnete, standen zwei imposante Gestalten in schwarzen Wettermänteln mit hochgezogenen Kapuzen vor ihm, so, wie man sich die Aufmachung von Mitgliedern eines Hexenzirkels vorgestellt hätte. Archibald konnte angesichts der Theatralik ein kurzes Schmunzeln nicht unterdrücken.
Es überraschte ihn, wie ruhig er die Männer in die Bibliothek führte, denn dies war sein Lieblingszimmer. Mit seinen eichenholzgetäfelten Regalen und kunstvollen Zierleisten verriet es, dass es Archibald im Leben sehr gut getroffen hatte. Hinter seinem Schreibtisch befand sich eine äußerst wertvolle, gerahmte Ausgabe des hippokratischen Eids. Nicht die moderne Neufassung aus dem Jahr 1964, sondern die lateinische Originalversion,
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