Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
nämlich kaum erkennen.«
»Offizielle Bilder gibt es in Hülle und Fülle. Aber meine Mutter hat ihn nie zu solchen Anlässen begleitet. Er schämte sich für sie. Sie trank.« Mariann Devers presste die Lippen zusammen und setzte sich auf die Armlehne des Stuhls, auf dem Bryan saß. Ihr Oberteil hatte Löcher unter den Achseln.Bryan wurde plötzlich unruhig. Die Stimmung war gekippt und irgendwie unangenehm. Das lag an dem Bild, das er gerade gesehen hatte.
Außerdem hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er sich der jungen Frau aufgedrängt hatte.
»Waren Sie in meine Mutter verliebt?«, fragte Mariann Devers völlig unvermittelt. Mittlerweile schien sie überhaupt keine Eile mehr zu haben, rechtzeitig an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren.
»Vielleicht.«
Die junge Frau biss sich auf die Oberlippe, während Bryan zunächst schwieg.
»Ich weiß es nicht«, sagte er dann. »Man konnte sich seiner Gefühle unter den Umständen damals nicht wirklich sicher sein. Ihr Vater war schwer krank. Ihre Mutter war wunderschön. Ich hätte mich ohne Weiteres in sie verlieben können – falls ich es nicht ohnehin schon war.«
»Und von welchen Umständen reden wir hier?« Mariann Devers sah ihn nicht an.
»Es würde zu weit führen, Ihnen das jetzt zu erklären, Miss Devers. Aber glauben Sie mir, es waren wirklich außergewöhnliche Umstände. Es herrschte Krieg, und ich befand mich als Engländer auf feindlichem Gebiet.«
»Dann kann sich meine Mutter auf gar keinen Fall für Sie interessiert haben.« Angesichts der Absurdität lachte sie laut auf. »Meine Mutter war der strammeste Nazi, dem ich je begegnet bin. Ich glaube, es verging kein Tag in ihrem Leben, an dem sie nicht vom Dritten Reich geträumt hätte. Sie liebte dieses ganze Theater. Uniformen, Märsche, Paraden. Und Sie waren Engländer. Der Feind.«
»Ihre Mutter wusste nicht, dass ich Engländer war. In dem Lazarett, in dem wir uns begegneten, kannte niemand meine wahre Identität.«
»Dann waren Sie ein Spion? Und sind als Weihnachtsmannverkleidet vom Himmel gefallen?« Sie lachte. Die Wahrheit interessierte sie nicht. »Wissen Sie was? Vielleicht habe ich doch noch ein anderes Foto von meiner Mutter. Von meiner Abiturfeier. Da steht sie zwar im Hintergrund, aber darauf ist sie auf jeden Fall besser getroffen als auf diesem hier.«
Sie kippte den staubigen Korb aus und reichte Bryan dann einen Rahmen, dessen Glas nicht erst bei der unsanften Landung eben zerbrochen war.
Das Bild zeigte eine andere Mariann Devers als die, die jetzt vor ihm saß. Die Abiturientin hatte glattes Haar und trug statt der Schlaghosen ein feminines weißes Kleid. Sie wirkte stolz. Sie war der Mittelpunkt.
Kalt und teilnahmslos stand die Mutter neben ihr und sah sie an. Gisela wirkte verhärmt. Die Jahre hatten es nicht gut mit ihr gemeint.
Bryan war erschüttert. Aber nicht, weil die Zeit so gnadenlos ihre Spuren an Gisela Devers hinterlassen hatte, auch nicht, weil aus ihrem Blick so viel Leid und Enttäuschung sprach. Nein, der Auslöser seiner Erschütterung war der Mann, der hinter Gisela Devers stand und dessen Hände schwer auf ihren Schultern ruhten. Der Mann, dessen Gesicht Mariann Devers auf dem anderen Foto halb weggekratzt hatte.
»War das ihr Mann?« Bryans Hand zitterte, als er auf das Gesicht zeigte.
»Ihr Mann und Peiniger, ja! Sie können es ihr doch ansehen, oder? Dass sie nicht glücklich war!«
»Und ihr Mann? Lebt der noch?«
»Ob er noch lebt? Und wie der noch lebt. Unkraut vergeht nicht. Erfreut sich bester Gesundheit. Genießt seit Jahrzehnten großes Ansehen hier in der Stadt. Ist wieder verheiratet. Hat jede Menge Geld auf der Bank.«
Ganz allmählich baute sich ein Stechen in seiner Brust auf. Bryan schluckte ein paarmal und vergaß zu atmen. »Dürfte ich Sie um ein Glas Wasser bitten, Miss Devers?«
»Ist Ihnen nicht gut?«
»Nein, nein. Geht schon wieder.«
Bryan war kreidebleich. Mariann Devers’ Angebot, noch etwas zu bleiben, lehnte er ab. Er brauchte frische Luft.
Sie half ihm in den Mantel. »Und Ihr Stiefvater, Miss Devers …« Abrupt ließ sie die Arme sinken.
»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie ihn nicht so nennen würden.«
»Also, der zweite Mann Ihrer Mutter … Herr ... Wie heißt der noch mal? Sagten Sie mir das bereits?«
»Ganz einfach: Schmidt.«
»Der Mann Ihrer Mutter heißt Schmidt?«
»Ja. Hans Schmidt. Oder Herr Direktor Hans Schmidt, wie er sich selbst gerne tituliert. Wahnsinnig
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