Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
Ohren.«
»Bryan.« Ihr Ton änderte sich. »Wo bist du? Doch nicht in München, oder?«
»Im Moment nicht, nein. Ich bin gestern nach Freiburg gefahren.«
»Geschäftlich?«
»Möglicherweise.«
Am anderen Ende der Leitung war es einen Moment still. Bryan vermochte nicht, die möglichen Konsequenzen seiner Lüge auszuloten.
»Bryan. Bitte erklär mir, wieso du nicht weißt, warum ich mir Sorgen um dich mache.« Er konnte hören, wie sehr sie versuchte, sich zu beherrschen. »Die ganze Welt weiß es! Du brauchst nicht einmal eine Zeitung
aufzuschlagen
, Bryan, weil es nämlich überall auf der ersten Seite steht!«
»Ich weiß wirklich nicht, wovon du redest. Hat man uns um eine Goldmedaille betrogen?«
»Ich muss es dir also wirklich erklären?« Sie klang aggressiv. Und sie wartete gar nicht erst auf seine Antwort. »Gestern wurde eine ganze Gruppe israelischer Sportler im Olympischen Dorf als Geiseln genommen. Von Palästinensern. Die ganze Welt hat dabei zugesehen. Es war so schrecklich, so furchtbar, Bryan, und jetzt sind sie alle tot. Alle Geiseln und alle Terroristen.« Sie schwieg einen Moment, doch Bryan brachte kein Wort heraus. Er war sprachlos. »Die Menschen reden von nichts anderem. Verstehst du, Bryan? Die ganze Welt trauert! Und du hast davon nichts, aber auch gar nichts mitbekommen? Wie kann das sein, Bryan? Was ist los?«
Bryan versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren. Er war erschöpft.Vielleicht war dies der Moment, Laureen von seinem eigentlichen Vorhaben in Deutschland zu erzählen. Laureen hatte Bryan stets vertraut und ihn nie bedrängt. Sie wusste, dass er Pilot gewesen und über Deutschland abgeschossen worden war. Mehr aber nicht. Und das war inzwischen verdammt lange her.
Sie würde seinen Drang, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, nicht verstehen, selbst wenn er ihr die Geschichte mit James erzählte. Passiert war eben passiert. Und damit in ihren Augen vorbei.
So war sie.
Vielleicht würde er es ihr erzählen, wenn er wieder zu Hause war.
Und damit ließ er die Gelegenheit verstreichen.
Er schwieg.
»Ruf mich an, wenn du wieder du selbst bist«, presste Laureen hervor und legte auf.
Als sich Bryan an diesem Tag zum zweiten Mal durch die Bertoldstraße in Richtung Bahnhof treiben ließ, überschlugen sich seine Gedanken. Ein kurzes Gespräch mit Keith Welles hatte ihn kein Stück weitergebracht. Der Kalendermann frönte seinem Datenwahn in einer Sackgasse, das brachte Bryan nun auch nicht weiter.
Auf einigen Bänken saßen dicht an dicht alte Männer und lasen Zeitung. Ein Blick auf die Schlagzeilen hätte Bryan in der Tat sofort verraten, dass etwas nicht stimmte. Das war also der Grund für die seltsame Stimmung, die er auf dem Postamt bemerkt hatte. Die Menschen standen unter Schock. »16 Tote!«, titelte eine Zeitung. »Alle Geiseln tot!«, eine andere. Und die Bild-Zeitung verstand es, besonders eingängige Formulierungen zu finden. Das Wort »Blutbad« erschloss sich selbst Menschen mit geringen Deutschkenntnissen.
In Anbetracht der Ereignisse von damals überraschte es Bryaneigentlich nicht, was in München geschehen war. Es zeigte, dass aus Hass immer nur Hass entstehen konnte. Heute trugen die Deutschen zusammen mit dem Rest der Welt Trauer. Vor dreißig Jahren waren sie es selbst gewesen, die Terror und Schrecken verbreitet hatten.
Im Wirrwarr der neuen Wohnviertel geriet Bryan unversehens an den Stadtrand. Tief in Gedanken war er immer weiter gezogen, bis er schließlich irgendwo unvermittelt stehen blieb und ein graues Schild auf der gegenüberliegenden Straßenseite anstarrte. Es hob sich kaum von der tristen Umgebung ab.
»Pension Gisela« stand auf dem Schild. Gisela. Ein unscheinbarer Name in einer unscheinbaren Straße. Bryan erstarrte.
Warum war er nicht schon früher darauf gekommen? Er war wie gelähmt.
Jahrelang hatte er die zärtliche Erinnerung an Gisela Devers gepflegt. Sie war das Einzige aus jener Zeit, woran er hin und wieder gern gedacht hatte.
Bryan fing an zu zittern. Zwar war die Wahrscheinlichkeit, anhand dieser vagen Spur weiterzukommen, äußerst gering – aber warum sollte er sich nicht mal auf sein Gefühl verlassen: dass Gisela Devers ihn auf seiner Suche nach endgültiger Gewissheit ein bedeutendes Stück weiterbringen konnte. Wenn sie denn noch lebte.
Devers war kein ganz ungewöhnlicher Name. Im Hotel hatte man Bryan mit bemerkenswerter Freundlichkeit das örtliche Telefonbuch zur Verfügung und
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