Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
eine Tasse Tee direkt neben den Münzfernsprecher gestellt. Die Groschenstapel vor ihm waren in den letzten zwei Stunden beträchtlich geschrumpft. Jetzt, zur Feierabendzeit, erreichte er fast alle, die er anrief. Die meisten sprachen kein Englisch. Und niemand kannte eine Frau namens Gisela Devers, die etwa Mitte fünfzig sein musste.
»Vielleicht lebt sie nicht mehr. Vielleicht wohnt sie nicht in Freiburg. Vielleicht hat sie kein Telefon.« Der Portier bemühtesich, Bryan aufzurichten. Er versorgte ihn mit einem weiteren Stapel Groschen, dann wurde der Mann vom Nachtportier abgelöst. Wenige Minuten später beschleunigte sich Bryans Atmung wieder, und er warf hektisch einen weiteren Groschen ins Münztelefon, als eine ruhige, junge Stimme ihm antwortete.
»Meine Mutter hieß Gisela Devers. Sie wäre bald siebenundfünfzig geworden.« Sie sprach korrektes, wenn auch etwas holpriges Englisch.
Sie hieß Mariann G. Devers, daraus schloss Bryan, dass sie unverheiratet war. »Warum fragen Sie? Kannten Sie sie?« Die junge Frau fragte mehr aus Höflichkeit denn aus Neugier.
»Ist sie tot?«
»Ja, schon seit über zehn Jahren.«
»Das tut mir leid.« Bryan schwieg einen Moment. Es tat ihm wirklich leid. »Dann möchte ich mich nicht weiter aufdrängen.«
»Soweit ich mich erinnere, hat meine Mutter nie erwähnt, dass sie englische Bekannte hatte. Woher kannten Sie sie?«
»Hier aus Freiburg.« Die Enttäuschung traf ihn mit Wucht. Es ging nicht nur um James. Gisela Devers war tot. Er würde sie nie wiedersehen. Es überraschte ihn selbst, wie traurig ihn das stimmte. Er konnte die Nahtstrümpfe an ihren schlanken Waden noch genau vor sich sehen. Sie war eine Schönheit gewesen, und sie hatte ihn im Vorhof des Grauens leidenschaftlich geküsst.
»Wann? Wann haben Sie zuletzt mit ihr gesprochen?«
»Sagen Sie, haben Sie vielleicht ein Foto von Ihrer Mutter? Ich würde so gerne ein Bild von ihr sehen. Wissen Sie, Ihre Mutter und ich standen uns einmal sehr nah.«
»Wenn Sie möchten, können Sie morgen kurz bei mir vorbei kommen. Ich habe zwischen zwölf und dreizehn Uhr Mittagspause, die verbringe ich meistens zu Hause.«
Mariann Devers war älter, als Bryan erwartet hatte. Jedenfalls älter als ihre Mutter bei seiner Begegnung mit ihr im Alphabethaus. Mariann war außerdem ein ganz anderer Typ Frau, ungeschminkt und längst nicht so schön wie die lebhafte, hochgewachsene Gisela. Die Wangenknochen hatte sie jedoch von ihrer Mutter.
Bryan überreichte ihr einen Strauß Blumen. Mariann Devers’ Wohnung war kaum größer als ein Schuhkarton, wirkte mit den vielen bunten Postern an den Wänden wie ein Zettelkasten und passte ganz ausgezeichnet zu Mariann Devers’ ungezwungener Art sowie ihrer etwas sonderbaren Kleidung. Die Frau machte den Eindruck, als sei sie arm – aber Besseres gewöhnt.
»Sie wurden also während des Krieges geboren? Aber dann müssen Sie ja schon auf der Welt gewesen sein, als ich Ihre Mutter kennenlernte?«
»Ich wurde 1942 geboren.«
»1942? Wirklich?«
»Und Sie haben auch meinen Vater gesehen, sagen Sie?« Mariann Devers zupfte abwechselnd an den vielen Halstüchern und den dunklen Haaren.
»Ja.«
»Erzählen Sie mir von ihm.«
Mit jeder Information, die Mariann Devers über ihren Vater erhielt, hellte sich ihr Gesicht ein wenig mehr auf, und je mehr es sich aufhellte, desto mehr erzählte Bryan. Sie hatte so gut wie keine Informationen über ihren Vater.
»Ich weiß nur, dass mein Vater bei einem Bombenangriff ums Leben kam. Vielleicht war das in dem Sanatorium, von dem Sie mir jetzt erzählen. Keine Ahnung. Meine Mutter hat immer gesagt, es sei doch vollkommen gleichgültig, wo er ums Leben gekommen sei, das Ergebnis sei schließlich dasselbe.«
»Und Ihre Mutter hat hier in Freiburg gelebt? Aber sie stammte doch gar nicht aus dieser Gegend, soweit ich weiß?«
»Stimmt. Aber nach dem Krieg sind so viele Menschen umgezogen. Mussten sie ja.«
»Was meinen Sie damit?«
»Na ja, Gerichtsverfahren, Konfiszierungen und dergleichen. Die Familie meiner Mutter hat damals alles verloren. Dafür haben Ihre Landsleute gesorgt, Mr. Scott.« Aus ihrer Stimme klang keinerlei Verbitterung, und doch trafen Bryan ihre Worte.
»Wie kam Ihre Mutter dann zurecht? Hatte sie eine Ausbildung?«
»In den ersten Jahren kam sie überhaupt nicht zurecht. Sie schaffte es einfach nicht. Nie. Ich weiß nicht, wo sie damals gewohnt und wovon sie gelebt hat. Mich hatte sie bei ihrem
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