Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
liebenswürdig lächelndes Personal. In einem der Flügel befanden sich die Gemeinschaftsräume, wo fast alle Patienten versammelt waren. Von überallher waren die Fernsehübertragungen der letzten Wettkämpfe zu hören, mit denen die Olympischen Spiele nun zu Ende gingen.
In der ersten Abteilung wirkte der Großteil der Patienten altersdement. Die meisten dösten vor sich hin, sie standen offenkundig unter Medikamenteneinfluss.
Frauen waren hier auffällig in der Minderzahl. Bryans Wunsch, einen Blick in alle Räume werfen zu dürfen, ließ Rehmann stutzen. Bryan reagierte sofort.
»Wundert Sie das, Mrs. Rehmann? Seien Sie versichert: Ich habe noch nie eine Einrichtung von besserem Standard gesehen. Darum werde ich jetzt immer neugieriger. Ich kann kaum glauben, dass es hier überall so vorbildlich zugehen soll – und noch dazu bei einem Besuch, auf den Sie ja gar nicht vorbereitet waren«, schmierte er ihr Honig ums Maul. Rehmann lächelte und fasste sich an ihre Turmfrisur, mit der sie ihn um einen halben Kopf überragte.
Als sie auf ihrem Weg zum anderen Flügel die Eingangshalle durchquerten, war es bereits drei Uhr.
Hinter einer der großen Topfpalmen rechts und links der Eingangstür hatte sich ein hochgewachsener Mann mit vernarbtem Gesicht versteckt. Er musste sich sehr beherrschen, um ganz ruhig durch die zusammengebissenen Zähne zu atmen. Als er Rehmanns Begleiter sah, ballte er die Fäuste.
Erst als sie den letzten Raum erreichten, ließ Rehmann sich endlich ablenken. Über die interne Sprechanlage hatte man bereits mehrfach versucht, sie zu rufen, doch bisher hatte sie darauf nicht reagiert.
Bryan sah sich um. Die Einrichtung war die gleiche wie in der zuerst besichtigten Abteilung.
Im Zustand der Patienten bestand jedoch ein himmelweiter Unterschied zu den Alterspsychosen, die still und leise zum Tod führten.
Eiskalt lief es Bryan über den Rücken. Die Atmosphäre in diesen Räumen sowie ihre Bewohner erinnerten ihn mehr als alles andere an die Zeit im Alphabethaus. Das Unartikulierte. Die Körpersprache. Die Apathie. Der Mantel des Schweigens. Er ging davon aus, dass die Menschen hier durchweg stark sediert waren.
Ganz junge Patienten hatte Bryan zwar noch nicht gesehen, aber trotzdem schätzte er das Durchschnittsalter in diesem Flügel auf höchstens fünfundvierzig. Einige der Bewohner wirkten auf den ersten Blick zunächst gesund. Sie sprachen die Anstaltsleiterin förmlich an, worauf diese mit einem kurzen Nicken antwortete.
Anderen Patienten merkte man an ihrer Körpersprache die Schizophrenie an. Reduzierte Mimik, tiefliegende Augen, verstörter Blick.
Von ihren jeweiligen Plätzen aus starrten sie alle zum Fernseher. Die meisten saßen in Reih und Glied auf eleganten Stühlen aus heller Eiche mit Armlehnen, andere auf bunten Sofas und ein paar wenige in großen, schweren Ohrensesseln,die mit dem Rücken zur Tür in der Mitte jedes Gemeinschaftsraums thronten.
Bryan ließ den Blick über die Fernsehzuschauer wandern und registrierte Rehmanns neuen, ernsten Gesichtsausdruck. Sie sprach noch ein paar Worte in die Anlage, kam dann direkt auf Bryan zu und fasste ihn freundlich am Arm.
»Entschuldigen Sie, Mr. Scott, aber wir müssen uns beeilen. Es tut mir wirklich leid, nur: Wir wollen ja auch noch das Obergeschoss besichtigen, und wie ich eben gehört habe, gibt es gerade einen Fall, um den ich mich rasch persönlich kümmern muss.«
Einige der Patienten sahen ihnen träge nach, bis sie den Raum verlassen hatten. Nur ein einziger von ihnen hatte überhaupt nicht auf ihre Stippvisite reagiert, sondern regungslos in dem Ohrensessel gesessen, der ihm aufgrund seines hohen »Dienstalters« irgendwie zustand. Im Schutze dieses Monstrums hatte er wie erstarrt lediglich die Augen ein klein wenig bewegt.
Seine Aufmerksamkeit richtete sich einzig und allein auf das, was auf dem Bildschirm passierte.
39
KAUM HATTEN BRYAN und Rehmann den Raum verlassen, nahm der Mann im Sessel seine Übungen wieder auf. Stoisch verfolgte er die übliche Routine: Erst wippte er ein wenig mit den Füßen. Dann spreizte er die Zehen, bis sie ihm wehtaten, atmete tief ein und entspannte die Füße wieder. Dann spannte er die Waden an, die Schienbeinmuskeln, dann die Oberschenkel. Nachdem er einmal sämtliche Muskelgruppen nacheinander aktiviert und entspannt hatte, fing er wieder von vorne an.
Das grobkörnige Fernsehbild wechselte beständig die Farbe. Die Gestalten auf dem Bildschirm waren
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