Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
hatte die magische Grenze von 4800 Punkten um einen Punkt überschritten. Eine Sensation. Ein strahlender Weltrekord. Trotz diverser Gesprächspausen erwähnte keiner von ihnen die tragischen Ereignisse der letzten Tage, die barbarische Entweihung der Spiele. So waren die Bedingungen im Sport. Volle Konzentration.
Bryans Herz raste, als er endlich die gut gefüllte Weinstube des Hotels Rappen am Münsterplatz betrat. Petra saß, ohne abgelegt zu haben, gleich an der Tür und nippte an einem großen Glas Bier. Der Schaum war am oberen Rand bereits eingetrocknet, sie wartete schon eine Weile. Dann machte es auch nichts, dass er zehn Minuten zu früh kam.
Noch bevor es zwei Uhr schlug, hatte sie ihm auch die letzte Hoffnung genommen. Bryans Lippen bebten. Petra senkte den Blick und schüttelte sachte den Kopf. Dann sah sie ihn kurz an und legte ihm die Hand auf den Unterarm.
Der Taxifahrer hatte dreimal nachfragen müssen, bis er das Ziel verstand. Bryan bereute fast, nicht bei Petra geblieben zu sein. Vielleicht hätte es ihnen beiden geholfen, über das zusprechen, was sie damals erleben mussten. Aber in dem Moment hatte er nicht anders gekonnt, er musste sich Gewissheit verschaffen.
Er hatte unmöglich in dem Lokal sitzen bleiben können, er musste zu dem Gemeinschaftsgrab der Gedenkstätte, in dem man seinen Freund zur letzten Ruhe gebettet hatte. Die Angriffe im Januar 1945 hatten so viele Menschen das Leben gekostet. Und zahllose unter ihnen waren unidentifiziert begraben worden. Das wurde Bryan erst jetzt richtig bewusst. James war namenlos, ohne Stein und ohne jegliche Markierung beerdigt worden. Das war das Allerschlimmste.
Als die Bomber der Alliierten seinerzeit zum Alphabethaus ausschwärmten, geschah dies auf Grundlage der Informationen, die Bryan in den Gesprächen mit Hauptmann Wilkens preisgegeben hatte. Das wurde ihm jetzt noch einmal schmerzlich bewusst.
Das war eine Schuld, die ein Mensch allein nicht aushalten konnte.
Der heruntergekommene Volkswagen stand noch genau da, wo Bryan ihn am Vortag zurückgelassen hatte. Aufgewühlt betrachtete er das Fahrzeug.
Jeder Mensch reagiert anders, wenn seine Geduld in einer Stresssituation auf die Probe gestellt wird. Bryan erinnerte sich gut daran, wie James in solchen Situationen schlagartig müde wurde und sich sofort durch Schlaf entziehen wollte. Das war nicht erst seinerzeit vor ihren Flügen so gewesen, sondern schon zu Prüfungszeiten in Eton und Cambridge.
Bryan hatte James oft um diese Eigenschaft beneidet, die in seinen Augen ein Segen war.
Er selbst war eher der unruhige, ungeduldige Typ. Warten war noch nie seine Stärke gewesen. Je länger er auf etwas warten musste, desto rastloser wurde er, war immer in Bewegung.
Die Warterei jetzt war kaum auszuhalten. Erst in einerStunde konnte er zum Schlossberg hinauffahren und das Grab seines besten Freundes besuchen.
Er warf noch einen Blick auf diesen Schrotthaufen von Volkswagen, der im Vergleich zu den anderen Autos hier ziemlich aus dem Rahmen fiel. Es war kaum zu glauben, aber das Auto war jetzt tatsächlich noch schmutziger als vorher. Vor lauter Staub war es inzwischen grau.
Bryan nahm sich vor, den Wagen zu der kleinen Kneipe bei der Eisenbahnbrücke zurückzufahren und dort, wie mit dem Verkäufer besprochen, abzustellen.
Die Arme auf das Autodach gestützt, blickte Bryan zur Kuranstalt St. Ursula auf der anderen Straßenseite. Er bemerkte gar nicht, wie schwarz seine Unterarme wurden. Die Anstaltsgebäude verliehen dem Straßenbild einen gewissen Glanz.
Wie alle Einrichtungen für psychisch kranke Menschen hatte natürlich auch die Kuranstalt St. Ursula ihre Geheimnisse. Bryan hatte gehofft, James würde eines davon sein. Diese Hoffnung hatte sich nun zerschlagen. Doch der Pockennarbige hatte irgendeine Verbindung zu diesem Haus. Kröner, der Mörder, spielte dort ebenfalls eine Rolle. Wenn Bryan nur wüsste, welche.
Er schlug auf das Dach des Volkswagens und fasste im selben Moment einen Entschluss.
Seine Tatkraft hatte ihn wieder.
Es vergingen einige Minuten, bis Anstaltsleiterin Rehmann in den Verwaltungsräumen erschien. Zunächst hatte ein ziemlich abweisender Pfleger ihn wegzuschicken versucht. Doch der Blumenstrauß, den Bryan geistesgegenwärtig noch schnell besorgt hatte und mit dem er jetzt vor der Nase des Pflegers herumfuchtelte, zeigte den gewünschten Effekt und ebnete Bryan den Weg in Rehmanns Vorzimmer.
Dort sah es aus wie geleckt. Nicht ein einziges
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