Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
schweigend den Kopf, während sie Tassen auf den Tisch stellte.
Kröner beobachtete sie dabei, wie sie Kaffee einschenkte. Andrea Stich war nichts weiter als das Anhängsel ihres Mannes. Anders als Kröners jetzige Frau, die die Unschuld und Reinheit in Person war, hatte Andrea Stich schon so einiges durchgemacht. Nach einem langen Leben an der Seite ihres Mannes war sie gegen Sorgen und Schmerzen immun. Das Herz der Frau eines K Z-Lagerkommandanten konnte weder unschuldig noch rein sein. Hatte ihr Mann einen Feind, musste der verschwinden, so einfach war das. Sie stellte keine Fragen. Das war Männersache. Sie kümmerte sich um Heim, Herd und sich selbst. Kröner dagegen wollte auf keinen Fall, dass seine Familie in diese Sache hineingezogen würde. Lankau brummte vor sich hin und rutschte dann auf dem Sofa nach vorn.
»Und jetzt soll ich ihn kaltmachen! Das ist es doch, was ihr wollt, oder? Mit dem allergrößten Vergnügen! Auf diese Gelegenheit warte ich seit Jahren. Aber hättet ihr euch dafür nicht einen besseren Schauplatz als den Schlossberg aussuchen können?«
»Gemach, gemach, Lankau. Der Schlossberg eignet sich ausgezeichnet, wenn man den richtigen Zeitpunkt wählt. Nach drei Uhr nachmittags sind alle Schulklassen wieder auf dem Weg nach unten. Und auch sonst verirrt sich Anfang September um diese Uhrzeit keine Menschenseele in den Säulengang. Du wirst also in aller Ruhe arbeiten können.« Der Alte tunkte einen Keks in seinen Kaffee. Ein Samstagsprivileg, von dem sein Arzt besser nicht erfuhr. Kröner kannte das von seinem Sohn. Aufmüpfigkeit war offenbar die unvermeidliche Begleiterscheinung jeder Form von Diabetes. »In der Zwischenzeit, Wilfried, sorgst du dafür, dass eure Familien übers Wochenende die Stadt verlassen. Um sieben, wenn alles vorbei ist, treffen wir uns beim Dattler und schaffen ihn gemeinsam weg. Wie und wohin, werde ich mir noch überlegen. Bis dahin haben wir genug zu tun. Vor allem für dich habe ich noch eine kleine Aufgabe, lieber Wilfried.«
Kröner sah ihn zerstreut an. Er hatte einen Moment nicht zugehört, sondern darüber nachgedacht, was er seiner Frau sagen sollte. Sie würde Fragen stellen. Viele Fragen. Peter Stich legte seine Hand auf Kröners.
»Aber als Allererstes, Wilfried, musst du Erich Blumenfeld aufsuchen.«
38
FREUDE UND TRAUER . Anspannung und Erleichterung. Angst und Wehmut. Die Gefühle fuhren Achterbahn mit Bryan. Zuerst bekam er kaum Luft, dann raste sein Herz und die Hände zitterten.
Tränen verschleierten seinen Blick.
James hatte es nicht geschafft. Nein, Bryan war nicht wirklich überrascht. Aber die Gewissheit empfand er jetzt als Anklage; die Jahrzehnte schwelende Angst, seinen Freund verraten zu haben und schuld an dessen Verhängnis zu sein, traf ihn wie ein Faustschlag in die Magengegend.
»Warst du am Grab?«, fragte Welles am anderen Ende der Leitung. Bryan konnte sein fassungsloses Gesicht vor sich sehen.
»Nein, noch nicht.«
»Aber du weißt, dass er tot ist?«
»Das hat die Krankenschwester gesagt, ja.«
»Aber du hast das Grab noch nicht gesehen! Soll ich das Wochenende über noch weitermachen, wie abgesprochen?«
»Mach, was du willst, Keith. Ich glaube, wir haben unser Ziel erreicht.«
»Du sagst, du glaubst es.« Keith Welles betonte Bryans Vorbehalt. »Du bist dir also nicht sicher?«
Bryan seufzte. »Sicher?« Er fasste sich in den Nacken. »Doch, schon. Ich sag dir Bescheid, wenn ich soweit bin.«
Bryan erntete einen entnervten Blick von einer der Kellnerinnen. Das Münztelefon stellte auf dem Weg von der Küche zur Cafeteria eine echte Schikane dar. Mit einem Nicken wies sie Bryan auf einen Text hin, der über dem Telefon an derWand hing. Bryan verstand ihn nicht, vermutete aber, dass es sich dabei um einen Hinweis auf die Telefonkabinen handelte, die er im Untergeschoss des Kaufhauses gesehen hatte. Bryan zuckte mit den Achseln, wann immer die Bedienungen sich kopfschüttelnd mit übervollen Tabletts an ihm vorbeidrängten. Das war sein drittes Telefonat gewesen, oder besser, sein dritter Versuch.
Nachdem er nun so oft vergeblich probiert hatte, Laureen zu Hause in Canterbury zu erreichen, ging er davon aus, dass sie mit Bridget nach Cardiff gefahren war.
Der nächste Anruf ging nach München. Im Olympischen Dorf hatte man ihn noch nicht vermisst. Das kurze Gespräch drehte sich einzig um den Sieg Englands im Fünfkampf der Frauen – ein Triumph, der alles andere zu überstrahlen schien. Mary Peters
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