Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
Bildschirm und fing abermals an, mit den Unterschenkeln zu wackeln. Diesmal übersprang er die Hälfte seines Programms, schnellte vom Sessel hoch und umfasste die Fußgelenke.
Als er im Flur Schritte hörte, ließ er los und setzte sich wieder.Kein Arzt, keine Pflegekraft und kein Besucher hatte ihn jemals bei seinen Übungen gesehen.
Erst als sich der Pockennarbige neben ihn setzte, bewegte er den Kopf. Sein Gast strich ihm über den Handrücken. Er ließ es geschehen und zählte wie schon so viele Male zuvor, wie oft er das tat. Heute war sein Gast ruhiger als sonst. »Komm, Gerhart«, begrüßte er ihn und drückte seine Hand. »Es ist Samstag. Wir fahren zu Hermann und Andrea, zu Kaffee und Kuchen. Komm, Gerhart.«
Zum ersten Mal seit vielen Jahren kam James dieser Name falsch vor.
40
AUF DEM WEG DURCH den Stadtgarten ließ Bryan seinen Besuch im Sanatorium noch einmal Revue passieren. Die Anstaltsleiterin Rehmann hatte sich deutlich reservierter gegeben, seit sie bei ihrem Rundgang unterbrochen worden waren.
Wenige Minuten später hatten sie sich voneinander verabschiedet.
Die ganze Aktion war umsonst gewesen. Sein Wunsch, mehr über Kröner oder Hans Schmidt, wie er sich jetzt nannte, zu erfahren, hatte sich nicht erfüllt. Er hatte es einfach nicht gewagt, entsprechende Fragen zu stellen, da es ihm zu riskant erschien, das Thema EW G-Zuschüsse mit halb privaten Fragen zu verquicken. Rehmann hätte bestimmt sofort Lunte gerochen. Und dann wäre die Sache sicher auch Kröner zu Ohren gekommen. Auf diese Konfrontation wollte Bryan lieber verzichten.
Alles hatte seine Zeit. Auch seine Begegnung mit dem Pockennarbigen.
Insgesamt war der Besuch in der Kuranstalt eine Schnapsidee gewesen. Er hatte Zeit in etwas investiert, was zu nichts geführt hatte. Bryan ging in die Hocke, um eine Blume für James’ Grab zu pflücken.
Die Fahrt mit der Seilbahn kam ihm endlos vor. Vom Geschaukel der Gondel wurde ihm übel. Das Unbehagen wurde auch nicht weniger, als er dem Weg aus überwucherten Kopfsteinen zum Säulengang folgte, wie ihn Petra beschrieben hatte. Die künstlichen griechischen Säulen an diesem Hang wirkten anachronistisch. Sie waren von niedrigen Mäuerchen mit Eisengeländer umgeben.
Man hatte es sicher gut gemeint, aber das Bauwerk war denkbar hässlich und verkommen.
Kriegerdenkmäler in Deutschland zeichnen sich nicht durch das Wahren von Anonymität aus, und die gigantische sechseckige Säule am Rand des Stadtgartens war ein guter Beweis dafür. Man hatte mit diesem Monument zunächst die Gefallenen des Ersten Weltkriegs geehrt. Genau war vermerkt, welchem Regiment die zwischen 1914 und 1918 Gefallenen angehört hatten. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs hatte man neue Inschriften ergänzt, wieder mit Regimentsnennung und Jahreszahlen.
Denkmäler dieser Art gab es überall auf der Welt. Ihnen allen war gemeinsam, dass auf ihnen präzise der Zweck ihrer Errichtung angegeben war. Darum wunderte sich Bryan, als er auch nach gründlicher Suche rund um dieses Bauwerk keinen einzigen Hinweis darauf fand, dass es sich hier um eine Grab- oder Gedenkstätte handelte.
Er ging in die Hocke, schlang die Arme um seine Beine und verharrte einen Moment. Anschließend kniete er sich hin. Es verging eine Weile, dann nahm er eine Handvoll Erde auf.
Sie war feucht und dunkel.
41
GENAU FÜNFUNDVIERZIG MINUTEN zuvor hatte sich eine hü nenhafte Gestalt auf dem gleichen Weg den Berg hinauf bewegt. Auf den letzten Schritten durch den dichten Wald war der Mann völlig außer Atem.
Inzwischen war es fast halb vier. Das Warten machte Horst Lankau nichts aus, schließlich wartete er schon seit achtundzwanzig Jahren. Ihn dürstete nach Rache.
Arno von der Leyen war in jener schicksalhaften Nacht am Rhein von einem Moment auf den anderen verschwunden gewesen. Lankau hatte unter Ausnutzung seiner guten Kontakte beharrlich, aber vergebens versucht, herauszufinden, was aus diesem Mann geworden war.
Tagein, tagaus hatte er seit dem Kampf mit Arno von der Leyen mit der davongetragenen Versehrung leben müssen, die aus ihm einen alles andere als ansehnlichen Mann gemacht hatte. Durch das verletzte Auge wirkte sein Gesicht schief. Die Frauen wandten sich ab, sobald er sich ihnen näherte. Aber das war nicht die einzige Beeinträchtigung. Weil er nur mit einem Auge sah, konnte er sein Handicap beim Golf nicht weiter verbessern. Von den gestauchten Nackenwirbeln gingen immer wieder mörderische Kopfschmerzen aus, die ihm
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