Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
der Leyen deutlich sichtbar. Heute wie damals.
Er zog die Mundwinkel nach unten und sah zum ersten Mal an sich hinunter. Die in Sportstrümpfen steckenden, abgeschnürten Waden waren völlig taub. Vergeblich versuchte er, die Durchblutung in Gang zu bringen, indem er die Muskeln anspannte. Schmerzen hatte er keine mehr. Lankau machte eine ruckartige Bewegung, die abermals ein Knirschen auslöste, riss den Mund weit auf und stieß eine endlose Reihe unartikulierter Laute aus. Sein Gegenüber wirkte überrascht. »Und das haben Sie wahrscheinlich auch alles nicht verstanden, Herr von der Leyen?« Er lachte höhnisch und schwieg dann eine Weile. Als sein Gesicht wieder eine normale Farbe angenommen hatte, schloss er die Augen und sprach wieder Englisch. Allerdings so leise, dass sein Bewacher ihn kaum hören konnte. »Einen Scheißdreck werde ich dir von Petra erzählen. Und auch sonst erzähl ich dir nichts mehr. Du langweilst mich! Erschieß mich doch! Oder lass mich einfach in Ruhe.«
Als sich ihre Blicke trafen, wusste Lankau, dass er vorläufig nicht um sein Leben bangen musste.
43
DAS RESTAURANT DATTLER auf dem Schlossberg war nicht gerade Kröners Lieblingsgaststätte. Zwar gab es dort eine großartige Karte, und das Essen war in der Regel das, was seine Frau vorzüglich nennen würde – aber er fand die Portionen zu klein und die Höflichkeit der Kellner grenzte an Blasiertheit. Kröner zog einfache, üppige Mahlzeiten in entspannter Umgebung vor. Seine verstorbene Frau Gisela konnte leider gar nicht kochen. In den fast zwanzig Jahren ihrer Ehe hatte sich bei ihnen eine Unmenge von Köchinnen die Klinke in die Hand gegeben – er war mit keiner zufrieden gewesen. Seine jetzige Frau dagegen war in Küchenangelegenheiten ein Traum. Das schätzte er sehr, und er entgalt es ihr. Das und vieles andere.
Stich saß ihm gegenüber und sah zum fünften Mal innerhalb weniger Minuten auf seine Armbanduhr. Was für ein hektischer Tag. Kröner hatte Frau und Sohn weggeschickt, er konnte die Umarmung des Jungen noch spüren. Um keinen Preis wollte er auf diese Umarmungen verzichten, und deshalb musste Arno von der Leyen für immer verschwinden.
Stich strich sich über den weißen Bart und spähte zum wiederholten Male aus den Panoramafenstern. Freiburg lag ihnen zu Füßen. »Mir geht es genau wie dir, Wilfried.« Er sah Kröner an und trommelte mit seinen dünnen Knöcheln auf der Tischdecke neben der Kaffeetasse herum. »Ich will, dass die Sache so schnell wie möglich ausgestanden ist. Jetzt ist Lankau am Zug. Wollen hoffen, dass alles geklappt hat. Bis jetzt haben wir Glück gehabt. Gut, dass du Gerhart so zeitig geholt hast. Ich hatte schon geahnt, dass das nötig sein würde. Und du bist dir ganz sicher, dass von der Leyen dich nicht gesehen hat?«
»Hundertprozentig.«
»Und Frau Rehmann? Die konnte dir nichts Näheres zum Anlass seines Besuches sagen?«
»Ich habe dir bereits alles erzählt, was sie mir gesagt hat.«
»Und die Geschichte hat sie ihm abgekauft? Dass er Psychiater ist? Dass er Mitglied irgendeines Ausschusses ist?«
»Ja. Sie hatte keine Veranlassung, daran zu zweifeln.«
Stich dachte eine Weile nach, setzte sich dann die Brille auf und studierte noch einmal die Speisekarte. Es war Viertel nach fünf. Vor einer Viertelstunde hätte Lankau da sein sollen. Dann setzte er die Brille wieder ab. »Lankau kommt nicht«, stellte er fest.
Kröner massierte sich die Stirn und versuchte, Stichs kalten Blick zu deuten. Er spürte ein Ziehen im Brustkorb. Wieder fühlte er die Umarmung und sah den treuherzigen, liebevollen Blick seines Jungen. Er riss sich zusammen. »Du glaubst doch nicht, dass ihm etwas passiert ist?« Wieder massierte er sich die Stirn.
»Ich hab’s nicht so mit dem Glauben. Arno von der Leyen taucht nicht zufällig im Sanatorium auf. Und Lankau kommt normalerweise nicht zu spät.«
Die Haut fühlte sich rau an, als Kröner sich zum dritten Mal an die Stirn fasste. »Könnte es sein, dass er die Leiche allein wegschafft?« Kröner blickte hinüber zur Seilbahn. »Er kann ganz schön eigenwillig sein!«
»Vielleicht. Könnte schon sein. Aber warum nimmt er dann nicht Kontakt zu uns auf?«
Kröner war im Laufe der Jahre etwas milder geworden und brachte seinen Mitmenschen manchmal sogar Freundlichkeit entgegen. Aber naiv war er ganz bestimmt nicht. Zutiefst beunruhigt dachte er daran, wie der Tag verlaufen war und dass sich Lankau jetzt verspätete. Viele Jahre lang waren
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