Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
– das war dem Postbotenschon immer ziemlich gleichgültig gewesen. Nun war es ihm gelungen, vier neue Identitäten zu beschaffen, die vom Alter, der Haar- und Augenfarbe und dem Körperbau her zu ihnen passten.
Als das Dritte Reich zusammenbrach, verschwand der Postbote spurlos.
Neun Tage nach der Kapitulation, am 17. Mai 1945, trafen sich Kröner und der Postbote auf einer abgelegenen und verlassenen Eisenbahnstrecke ganz in der Nähe von Hölle, einem kleinen Dorf nördlich von Naila im Frankenwald.
Im ganzen Land herrschte Chaos. Die Geschäfte waren geplündert worden. Die Menschen zerstreuten sich auf ihrer planlosen Flucht oder bei ihrem letzten panikartigen Rückzugsversuch mitsamt ihren Habseligkeiten und Tieren in alle Himmelsrichtungen.
Kröner und der Postbote waren ebenfalls unterwegs. Zwei Kilometer von ihrem Treffpunkt entfernt warteten sie die Übergabeerklärung ab. Durch einen glücklichen Zufall waren die Truppenbewegungen der westlichen Alliierten just dort zum Stillstand gekommen. Nur wenige Kilometer weiter wurde die Eisenbahnstrecke von der sowjetischen Armee kontrolliert.
Zwei Tage später tauchte auch Lankau auf, abgemagert und verlaust wie ein Landstreicher. Ein überraschendes, aber zufriedenstellendes Wiedersehen. Alle drei hatten sie dem Inferno und den Entfernungen getrotzt, genau wie sie es im Alphabethaus verabredet hatten. Hier hatten sie sich treffen wollen, wenn der Krieg vorbei war. Ein ausrangierter Güterwaggon würde ihre Zukunft bestimmen. Bis zum Zerbersten gefüllt mit den Wertgegenständen, die sie sich auf Kosten russischer Zwangsarbeiter angeeignet hatten.
Der Güterwaggon stand tatsächlich noch da. Unglaublich viel war passiert, seit eine Tenderlokomotive den Waggon einstvorsichtig zu dieser Stelle geschoben hatte. Kaum zu glauben, dass die Waffen um sie herum jetzt tatsächlich schwiegen.
Unberührt und an einigen Stellen von Moos bewachsen stand der alte Waggon vergessen auf einem halb verrosteten, stillgelegten Rangiergleis und barg Reliquien, Ikonen, Altarsilber und andere Kostbarkeiten.
Ein Schatz von unermesslichem Wert.
Die drei waren völlig euphorisch. Trotz ihrer Erschöpfung und in Lankaus Fall auch trotz seiner schweren Verletzungen konnten sie ihr Vorhaben wie geplant durchführen.
Dass Dieter Schmidt ums Leben gekommen war, nahmen Kröner und der Postbote mit Bedauern zur Kenntnis. Aber untröstlich war keiner. Nun mussten sie ihren Schatz mit einem weniger teilen. Dass Arno von der Leyens Fluchtversuch geglückt war, bestürzte Kröner und den Postboten. Letzterer war außer sich vor Wut. Sie mussten den Waggon an einen anderen Ort schaffen und den Rest ihres Plans umgehend in die Tat umsetzen.
Das Schloss an der Schiebetür des Güterwaggons war verrostet, aber intakt. Quer über der ersten Reihe Kisten lagen einige Kleidungsstücke verteilt, die sich bei genauerem Hinsehen als die sterblichen Überreste eines Zwangsarbeiters entpuppten, den sie nach seiner Liquidierung in der Eile nicht mehr hinausgeworfen hatten. Dahinter standen in Reih und Glied vom Boden bis zur Decke aufgetürmte braune Kisten. Zwei der vordersten Kisten waren mit einem unscheinbaren Kreuz markiert. Der Postbote riss sie auf. Nachdem er die darin befindlichen amerikanischen Dollar, Konserven und zivilen Kleidungsstücke verteilt hatte, öffnete er eine Mappe und überreichte seinen Komplizen ihre neuen Identitäten.
Der Postbote war gut vorbereitet. Als er erklärte, wie sie weiter verfahren sollten, protestierte keiner. Von jetzt an waren sie andere Menschen, von außen betrachtet. Zukünftig durften sie ihre richtigen Namen nur dann verwenden, wennsie unter sich waren. Sie mussten ihrem bisherigen Leben entsagen. Und sie mussten einander bedingungslose Loyalität schwören.
Kröner versprach seinen Kameraden hoch und heilig, sich den Rest seines Lebens von Norddeutschland fernzuhalten, wo er geboren und aufgewachsen war, wo er geheiratet und drei Kinder in die Welt gesetzt hatte. Er hatte bereits damit gerechnet.
Lankau hatte nicht lange überlegen müssen. Auch er hatte eine Frau und sogar vier Kinder. Seine Ehe war glücklich gewesen. Doch jetzt waren seine Heimatstadt Demmin an der Peene und auch die Gegend, aus der seine Eltern stammten, von den Russen besetzt.
Er würde nie wieder dorthin zurückkehren.
Was den Postboten betraf, so lagen die Dinge anders. Er hatte sich in seiner Heimat schon vor dem Krieg jede Menge Feinde geschaffen. Die Segnungen des
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