Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
Nationalsozialismus und die neue Ordnung des Dritten Reiches hatten sich der schlichten Landbevölkerung partout nicht erschlossen, und der Postbote hatte jeden, der sich der Ideologie widersetzte, denunziert. Viel zu viele Frauen hatten sich seinetwegen von ihren Lieben verabschieden müssen.
Auch er würde niemals nach Hause zurückkehren können.
Der Postbote hatte keine Kinder, aber eine Frau, die ihn stets still bewundert und nie aufgemuckt hatte, ganz gleich, welches Leben er ihr bot. Auf sie sei hundertprozentig Verlass, schärfte er ihnen ein.
Als sie sich umgezogen hatten, standen die drei vor dem Güterwaggon und schworen noch einmal einen heiligen Eid: dass sie für immer mit ihrer Vergangenheit abschlossen und ihre Angehörigen als tot betrachteten.
Dann wurden die Aufgaben verteilt. Der Postbote würde dafür sorgen, dass der Waggon aus dem Zonengrenzgebiet verschwand und nach München gebracht wurde. In der Zwischenzeitsollten Kröner und Lankau nach Freiburg fahren und versuchen, Gerhart Peuckert zu finden. Sie waren überzeugt, dass er wusste, was sie vorhatten. Aber sie hatten keine Ahnung, was aus ihm geworden war.
Wenn er noch am Leben war, sollten sie ihn liquidieren.
Der Transport des Güterwaggons verlief verblüffend reibungslos. Mehrere tausend Dollar wechselten den Besitzer. Später verschwand der amerikanische Verbindungsoffizier, der das Geld angenommen hatte, auf seinem Weg vom Rathaus in Naila zurück zu seinem Standort spurlos.
In München war im Frühsommer 1945 alles in Auflösung begriffen. Schwarzhandel und Bestechung waren an der Tagesordnung.
Sobald der Preis stimmte, war jeder käuflich. Der Waggon wurde unter höchster Diskretion entladen, und noch vor Ablauf des Monats waren die meisten Wertgegenstände in den Gewölben fünf verschiedener Schweizer Banken in Basel untergebracht.
Kröners und Lankaus Aufgabe gestaltete sich deutlich schwieriger.
Die Fahrt über Land war trostlos. Ein geschundenes Land, zerstört von einer Idee, deren Überreste nun um jeden Preis vom Erdboden verschwinden mussten. Acht Tage waren sie mit dem Fahrrad unterwegs. Zirka vierhundertfünfzig Kilometer durch ein besetztes und von Verwirrung, Misstrauen und zahllosen Kontrollen geprägtes Land.
Lankau und Kröner befürchteten, in Freiburg vom Regen in die Traufe zu kommen. Die Stadt und ihre Umgebung waren in den letzten Monaten zwar massiv zerstört worden, aber die Wahrscheinlichkeit war doch groß, dass es dort Zeugen ihres Lazarettaufenthaltes gab.
Als sie schließlich in Freiburg ankamen, löste sich ihre Besorgnis allerdings in Luft auf. Dort, wo das Alphabethaus sie einst vor dem draußen wütenden Tod beschützt hatte, fandensie nur noch verbogene Armierungseisen sowie Reste von Mauern und Betonklötzen. Und in der Stadt herrschte Chaos. Die Menschen waren vollauf mit sich und der eigenen Familie beschäftigt. Man richtete den Blick nach vorn.
Selbst in den nahe gelegenen Dörfern Ettenheim und Ottoschwanden konnten sie kaum in Erfahrung bringen, was passiert war. In einem Punkt stimmten alle spärlichen Informationen überein: Bei einem der letzten Luftangriffe auf Freiburg hatte ein Bomber das Geschwader verlassen und seine Ladung über dem Höhenzug abgeworfen. Ein Irrläufer, hieß es – Berge, Bäume und endlose Wälder konnten wohl kaum ein geplantes Angriffsziel gewesen sein. Besonders Aufmerksamen war allerdings nicht entgangen, dass seit jenem Tag weniger Krankentransporte die Ortschaften passierten.
Das Alphabethaus war ein gut gehütetes Geheimnis gewesen, das all jene, die bei dem Bombenangriff ums Leben gekommen waren, mit ins Grab genommen hatten.
Die drei trafen sich in München wieder und führten in dieser völlig überlaufenen Stadt eine ganze Weile ein unauffälliges, bescheidenes Leben. Die Alliierten bemächtigten sich aller zentralen Kontrollorgane. Es wurde zunehmend schwieriger, ein unauffälliges Dasein zu führen. Dann schlug der Postbote vor, dass sie sich in der schönsten deutschen Stadt niederlassen sollten: in Freiburg.
Sie verlebten dort eine sorglose Zeit – bis der Postbote eines Tages erfuhr, dass unmittelbar vor der Vernichtung des Alphabethauses mehrere Krankentransporte von dort zum Reservelazarett Ensen bei Porz in der Nähe von Köln abgefahren waren. Dort hatte man kurz vor Ende des Krieges die Aufgabe bekommen, zu untersuchen, ob und inwiefern gewisse Kriegsneurosen und provozierte Psychosen organischen Ursprungs sein
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