Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
konnten. Der Großteil der Patienten war nach einer oberflächlichen Untersuchung als für die Studie ungeeignet befundenund sofort in den Felddienst entlassen worden. Doch soweit der Postbote informiert war, hielten sich einige der ehemaligen Alphabethaus-Patienten zu jenem Zeitpunkt im Jahr 1945 noch immer dort auf. In Ensen teilte man ihnen schließlich mit, Gerhart Peuckert sei nicht unter den vom Schwarzwald überführten Patienten gewesen. Er sei bereits tot.
Lankau lehnte sich zurück und sah Arno von der Leyen an. Seine Geschichte war jäh zu Ende. Mit keiner Silbe hatte er die Identität des Postboten verraten. Er war zufrieden mit sich – abgesehen davon, dass er immer noch an den Stuhl gefesselt war.
Arno von der Leyen schüttelte den Kopf. Er war ganz grau im Gesicht. »Gerhart Peuckert ist tot?«
»Ja, sage ich doch.«
»Wo ist er gestorben?«
»Na, im Reservelazarett bei Ottoschwanden, verdammt noch mal!«
»Ist das das Lazarett, das du auch ›Alphabethaus‹ nennst? Das Krankenhaus, in dem wir uns befanden? Ist er bei dessen Bombardierung ums Leben gekommen?«
»Ja, ja, ja!«, höhnte Lankau. »Und?«
»Ich will, dass du es sagst. Damit ich mir ganz sicher sein kann.« Von der Leyen kniff die Augen zusammen. Ganz offensichtlich wollte er jegliche Regung in Lankaus Gesicht registrieren. Doch in Lankaus Miene tat sich nichts.
Da wurde von der Leyens Blick kalt. »Spannende Geschichte, Lankau, wirklich«, sagte er tonlos. »Ich bin sicher, ihr hattet gute Gründe, so fest zusammenzuhalten. Es muss sich um eine Menge Geld drehen.«
Lankau wandte den Blick ab. »Da kannst du Gift drauf nehmen! Aber glaub ja nicht, dass du uns erpressen kannst. Keinen Pfennig bekommst du davon.«
»Habe ich irgendwelche Forderungen gestellt? Das Einzige,was mich interessiert, ist, was aus Gerhart Peuckert geworden ist.«
»Jetzt weißt du es. Er ist schon lange tot.«
»Weißt du, was ich glaube, Lankau?«
»Ich bin nicht sicher, ob mich das interessiert.« Lankau schloss die Augen und versuchte, sich auf das Geräusch zu konzentrieren, das er gerade gehört hatte. Ein ganz diskretes Knirschen, das er wieder hören konnte, als er sich ein wenig nach vorn beugte. Von der Leyen schlug ihm gegen die Brust und unterbrach damit Lankaus Sondierungsversuche. Arno von der Leyens Gesicht war nun gar nicht mehr grau. Er stieß Lankau den Lauf der Pistole in die Seite. Lankau starrte auf die Waffe und hielt die Luft an.
»Ich glaube, ich erschieße dich am besten gleich hier und jetzt, wenn du mir nicht die Wahrheit erzählst. Zum Beispiel, wie Petra Wagner ins Spiel gekommen ist.« Wieder bohrte er dem Gefesselten den Pistolenlauf in den Rumpf. Lankaus Atem ging stoßweise.
»Na ja. So wahnsinnige Angst jagst du mir mit dieser Drohung nicht ein.« Der Hüne machte unvermittelt eine ruckartige Bewegung vorwärts, als wolle er seinem Gegenüber einen Kopfstoß verpassen. »Was hattest du dir denn vorgestellt? Dass du uns abknöpfen könntest, was wir im Laufe der Jahre zusammengetragen haben? Du hättest dir doch ausrechnen können, dass das nicht so einfach gehen würde!«
»Bis vor zehn Minuten hatte ich nicht die leiseste Ahnung, worum es eigentlich die ganze Zeit ging. Und von irgendwelchem Geld wusste ich schon gar nichts. Ich bin hier, weil ich wissen möchte, was aus Gerhart Peuckert geworden ist.«
Lankau hörte wieder dieses Knirschen. »Ach, hör doch auf, du Armleuchter!« Er schrie fast und gleichzeitig versuchte er zu ergründen, wo genau der Stuhl knirschte. »Und das soll ich dir glauben? Du hast wohl vergessen, dass wir monatelang im selben Lazarett lagen! Meinst du etwa,
ich
hätte vergessen,wie du dich nachts in deinem Bett herumgewälzt und unsere Gespräche belauscht hast? Meinst du, ich hätte vergessen, wie du versucht hast, mitsamt deinem Wissen zu entkommen?«
»Meinem Wissen? Ich habe kein Wort von dem verstanden, worüber ihr geredet habt. Ich verstehe nur Englisch. Ich wollte einfach nur weg von euch und diesem verdammten Krankenhaus!«
»Ach, hör schon auf!« Lankau glaubte ihm kein Wort.
Der Mann ihm gegenüber spielte schon seit Jahrzehnten sein Spiel. Er war gerissen, gierig und gefährlich. Dunkel erinnerte er sich daran, dass Stich schon damals an der Identität von der Leyens gezweifelt hatte. Mächtig ist der Feind, der in seinem Gegner Zweifel wecken kann. Übermächtig ist der, der sich unsichtbar machen kann. Lankau hatte nie einen Zweifel gehabt. Und für ihn war von
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