Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
aussprach: »Du weißt, dass sie nicht echt sind?« James antwortete nicht, nickte aber kurz und desinteressiert.
Als sie die Steilhangkante erreichten, brachen sich die Wellen mit Macht am Fuß der Klippen. Bryan schlug den Kragen hoch und sah zu seinem Freund.
»Ich glaube, wir sind hier ganz in der Nähe von der Stelle, an der wir damals den Ballon aufsteigen ließen, James. Erinnerst du dich?« James schwieg. »Damals waren wir glücklich. Obwohl es fast schiefgegangen wäre.« Bryan zündete sich die erste Zigarette des Tages an. Der milde Tabak war eine Wohltat. Auf der gesamten Strecke bis zur Stadt hin war keine Menschenseele zu sehen. Das Meer glich einer Orgie aus kühlen Farben.
James brummte etwas Unverständliches in sich hinein. Er zog die Jacke fester um sich.
»Sollen wir nach Hause gehen, James? Ist dir kalt?«
Statt einer Antwort beschleunigte James den Schritt.
Dort, wo er stehen blieb, waren sie bestimmt schon einmal gewesen. Vor vielen Jahren. James sah hinunter in die Tiefe. Dann drehte er sich um.
»Nein«, sagte er plötzlich und musterte den Boden unter sich. »Ich kann mich nicht richtig erinnern. Nur an ein paar Einzelheiten.«
Bryan nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. »Wovon sprichst du, James? Von unserer Ballontour?«
»Ich kann mich nur erinnern, dass du mich an der Klippe hast hängen lassen.«
»Hängen lassen? Ich habe dich gerettet, James! Weißt du das denn nicht mehr? Das war ein ganz normaler, dummer Unfall! Wir waren zwei übermütige Jungs!«
James räusperte sich. Bryan sah ihn an. Gerade hatte er noch ganz ruhig dagestanden, jetzt spannte er systematisch alle Muskelgruppen nacheinander an. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich unentwegt. Petra hatte es sicher nicht leicht.
»Ich kann mich erinnern und ich kann mich nicht erinnern«, sagte James und verstummte. »Du kennst immer noch nicht die ganze Geschichte der Simulanten, oder?«, wechselte er unvermittelt das Thema.
»Nein, James. Ganz sicher nicht. Ich weiß nur von dem, was Petra Laureen erzählt hat.«
James entfernte sich ein paar Schritte von der Kante der Klippe. Bryan beobachtete ihn. »Ihre Geschichte ist die wichtigste in meinem Leben.« Er sah ausdruckslos vor sich hin, schüttelte den Kopf und wirkte wieder vollständig resigniert. »Nicht eine meiner Geschichten, sondern die Geschichte von anderen Menschen. Ist das nicht traurig?« Bryan warf einen Blick über die Schulter. Bis zum Abgrund war es weniger als ein Meter. James stellte sich direkt vor Bryan und sah ihm zum ersten Mal in die Augen. Sie änderten in diesem Licht beständig die Farbe. Mal waren sie grau, mal blau. »Petra hat mir erzählt, dass du Arzt geworden bist, Bryan«, sagte er dann auf einmal.
»Ja, das stimmt.«
»Und dass du viel Geld verdient hast.«
»Auch das stimmt, James. Mir gehört eine gutgehende Firma für Medizinprodukte.«
»Und deinen Geschwistern geht es gut.«
»Ja, denen geht es gut.«
»Ganz schöne Unterschiede zwischen dir und mir, Bryan, was?«
Als Bryan ihm in die Augen sah, spiegelte sich darin dasMeer, und die Farbe blieb. »Ich weiß es nicht, James. Ja, wahrscheinlich schon.« Im selben Moment bereute Bryan seine Unaufrichtigkeit.
»Glaubst du denn nicht, dass ich das weiß?«, fragte James ruhig und trat noch einen Schritt auf Bryan zu. Ihre Nasenspitzen berührten sich fast. James’ Atem roch süßlich. »Ich glaube schon, dass ich mit meinem vergeudeten Leben irgendwie leben kann«, sagte er und presste die Lippen zusammen. »Aber es gibt viele Dinge, mit denen ich nur schwer zurechtkomme.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel mit dir.« Er lächelte nicht. »Und mit den Entzugserscheinungen natürlich. Damit, dass Leute mit mir reden. Und dass sie erwarten, dass ich ihnen antworte. Damit, dass ich Gerhart, Erich und James bin.«
»Ja.«
Die Sehnen in James’ Hals traten hervor. Langsam hob er die Hände und ging auf Bryan zu. »Aber das ist nicht das Schlimmste.« Bryan trat einen Schritt zurück. Er atmete tief durch.
»Das Schlimmste ist«, fuhr James fort und ergriff vorsichtig Bryans Oberarme, »… das Schlimmste ist, dass du nicht gekommen bist, um mich zu holen!«
»James, das ist nicht fair! Ich habe alles, wirklich alles versucht, um dich zu finden. Aber du warst wie vom Erdboden verschluckt. Was hätte ich denn tun können!« Der Griff um Bryans Oberarme wurde fester.
James’ Blick war abwesend. Dann riss er sich wieder zusammen und flüsterte so leise, dass
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